Jan Fleischhauer

#MeToo-Fälle Wie naiv darf man sein?

Ein Moderator schreibt der Praktikantin nachts eine SMS: "Dritte Etage, Zimmer 312". Sie wundert sich, dass er nicht Stift und Zettel in der Hand hat, als sie bei ihm klopft. Wie viel Weltfremdheit muss man Feministinnen zugestehen?
WDR in Köln

WDR in Köln

Foto: Oliver Berg/ picture alliance / Oliver Berg/dpa

Die "Süddeutsche Zeitung" hat am Wochenende die Serie an Berichten zu sexuellen Übergriffen in Deutschland mit einer Reihe von Schilderungen aus der Berufswelt fortgesetzt. Unter den Fallbeispielen war die Geschichte einer jungen Frau, die vor fünf Jahren als Praktikantin beim WDR gearbeitet hat. In dem Text beschreibt die Fernsehjournalistin, wie sich ihr der Moderator, dem sie damals zugeteilt war, auf unziemliche Weise näherte. Wie man zum Ende hin erfährt, ist der namenlos bleibende Redakteur mit dem Mann identisch, der es gerade als WDR-Sexmonster zu unfreiwilliger Prominenz gebracht hat.

Es lohnt, sich die Beschreibung der Zudringlichkeiten, denen sich die Praktikantin ausgesetzt sah, näher anzusehen, weil sie ein Schlaglicht auf den Stand der #MeToo-Debatte wirft. Folgt man ihrer Darstellung, lud der Redakteur die junge Frau dazu ein, neben ihm auf der Rückbank des Mercedes Platz zu nehmen, während die Kollegen den Bus nahmen. Es gab gemeinsame Abende und Kneipenbesuche, bei denen das Gespräch schnell vom Fernsehgeschäft auf sexuelle Vorlieben kam.

Einmal schrieb er ihr abends eine SMS: "Dritte Etage, Zimmer 312." Man müsse dringend über den nächsten Dreh reden. Sie hatte schon geschlafen, berichtet die Frau in der "SZ". Sie habe sich mit Stift und Zettel auf den Weg gemacht, um dann enttäuscht feststellen zu müssen, dass ihr Mentor nicht ebenfalls Stift und Zettel bei sich trug, als er die Tür öffnete.

Ich bin ins Grübeln gekommen, als ich das las. Was glaubt eine Praktikantin, wenn ein 30 Jahre älterer Mann sie zu nachtschlafender Zeit per SMS dazu einlädt, sie in seinem Hotelzimmer aufzusuchen? Nimmt sie im Ernst an, dass man sich über die Kameraeinstellungen am nächsten Drehtag austauschen wird? Sicher, es gibt Nerds, die nur die Arbeit im Kopf haben, auch noch gegen Mitternacht. Aber die meisten Menschen denken zu dieser Zeit an ganz andere Dinge, wie einem die Lebenserfahrung sagt.

Ich will hier nicht den Mann verteidigen, der sich offenbar für so unwiderstehlich hielt, dass er jeder Frau in seinem Umfeld nachsetzte, die nicht bei drei auf den Bäumen war. Wer sich damit brüstet, immer zu bekommen, was er wolle, weil er nun mal ein "Alphatier" sei, hat es nicht anders verdient, dass seine Vorgesetzten dafür sorgen, dass er garantiert keine Praktikantinnen mehr zu sehen bekommt. Ich frage mich allerdings, wieviel Blauäugigkeit wir als normal zu betrachten angehalten sind.

Aus Sparzwang ins Doppelzimmer

Ich habe keine Zweifel, dass es der jungen Frau unangenehm war, als ihr der Moderator zu nahe rückte. Aber sollte man nicht erwarten können, dass eine 25-Jährige in der Lage ist, nächtliche SMS zu ignorieren? Wie man erfährt, ging sie sogar auf sein Angebot ein, bei ihm zu schlafen, als er sie fragte, ob sie bei ihm übernachten wolle. Sie schreibt: "Ich erwartete Frau und Kinder zu treffen, ich fand einen Pool, zwei Liegen, eine Flasche Wein und Oliven." Ja, um Gottes Willen, was denn sonst bei einem Mann, der zuvor die Vorzüge der "offenen Ehe" gepriesen hatte? Erst wenn man eine Grenze setzt, existiert diese auch.

Der Fall sei komplexer als er erscheine, hat die WDR-Chefredakteurin Sonia Mikich auf Befragen erklärt. Wenn man den Bericht in der "SZ" liest, bekommt man eine Vorstellung davon, was sie gemeint haben könnte. Zu den Vorfällen, die dem WDR-Korrespondenten zur Last gelegt werden, gehört die sogenannte "Doppelzimmeraffäre". Vor Jahren hatte er einer Praktikantin weisgemacht, sie müsse mit ihm aus Kostengründen ein Zimmer teilen: Der WDR erlaube wegen des Sparzwangs nur Doppelzimmer. Auch hier stellt sich die Frage, wieviel Weltfremdheit eigentlich erlaubt ist. Mir ist es jedenfalls ein Rätsel, warum jemand unbedingt Journalist werden will, dem man offenbar die haarsträubendsten Geschichten auftischen kann, ohne dass er Zweifel bekommt.

Die Frau als Rotkäppchen, das dem bösen Wolf zum Opfer fällt

Die Komik der #MeToo-Debatte liegt, wenn man so will, in ihrem regressiven Element. An die Stelle der emanzipierten Frau, die selbstbewusst erklärt, was sie will und was nicht, ist wieder die naive Unschuld getreten, die ahnungslos durchs Leben tappt, bis ein Prinz kommt und sich ihrer erbarmt. Vielen Erzählungen ist gemeinsam, dass sie die Frau als Rotkäppchen zeichnen, das dem bösen Wolf zum Opfer fällt. Deshalb funktionieren sie ja auch so gut. Diese Muster sind so alt, sie sind ganz einfach abrufbar.

Sonia Mikich hat im SPIEGEL-ONLINE-Interview einen bemerkenswerten Satz gesagt. Gefragt, wie sie selber mit sexueller Belästigung umgegangen sei, antwortete sie: "Ich habe immer gesagt 'Hau ab, Du Blödmann'." Das habe immer geklappt, im WDR, außerhalb des WDR, im Privatleben.

Frau Mikich ist 1951 geboren. Sie gehört damit zu einer Generation von Frauen, die mit Alice Schwarzer und der "Emma" aufgewachsen sind und zu deren Heldinnen Thelma und Louise gehörten und nicht die Prinzessinnen aus den Märchen der Brüder Grimm. Die Siebzigerjahre-Feministinnen hätten sich totgelacht, wenn ein Mann sie dazu hätte bewegen wollen, ein Bett mit ihm zu teilen, weil die Unternehmensleitung angeblich Kosten sparen müsse.

Ich glaube, mir ist der praktische Feminismus von Frau Mikich lieber als der Retrofeminismus der #MeToo-Anhängerinnen. Ich will nicht mehr über Frauen lesen, dass sie arme Hascherl sind, die sich selber nicht zu wehren wissen.

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