
Massaker in Mexiko: Polizeischutz für Trauernde
Massaker an Mormonen in Mexiko Vergiftetes Hilfsangebot aus Washington
Es war die schlimmste Gewalttat gegen US-Bürger in Mexiko seit dem Beginn des Drogenkriegs im Jahr 2006: Bewaffnete, vermutlich Mitglieder eines Drogenkartells, ermordeten am Montag drei Frauen und sechs Kinder. Alle Opfer entstammen der Familie LeBaron. Sie lebt in einer Mormonengemeinde nahe der US-Grenze im Norden Mexikos, die insgesamt mehr als 3000 Mitglieder zählt. Die meisten Einwohner besitzen die mexikanische und die US-amerikanische Staatsbürgerschaft.
Offenbar waren die Mütter - allein mit ihren Kindern auf einer abgelegenen Landstraße in drei SUV unterwegs - in einen Hinterhalt geraten. Sie starben im Kugelhagel, anschließend fing eines der Autos Feuer. Die Opfer, unter ihnen zwei Babys, verbrannten bis zur Unkenntlichkeit.
Acht Kinder überlebten den Angriff, auch ein Baby, das im Arm seiner toten Mutter gefunden wurde. Sechs der Kinder wurden durch Schüsse verletzt. Ein 13-jähriger Junge, der entkommen konnte, half ihnen, sich zwischen den Büschen zu verstecken. Dann lief er über 22 Kilometer bis zur nächsten Siedlung, um Hilfe zu holen.
Das Verbrechen ist der jüngste Fall einer Serie von Massakern und Attacken der Drogenmafia, der in den vergangenen Wochen Dutzende Menschen zum Opfer gefallen sind. Die Eskalation der Gewalt wird 2019 voraussichtlich zum blutigsten Jahr seit dem Beginn des Drogenkriegs in Mexiko machen - und sie führt dazu, dass immer mehr Experten den sanften Kurs der mexikanischen Regierung gegenüber den Drogenkartellen hinterfragen.
"Das einzige Limit für die Gewalt liegt in der Vorstellungskraft der Mörder"
Präsident Andrés Manuel López Obrador hält unbeirrt an seinem Grundsatz fest, dass man "Gewalt nicht mit Gewalt bekämpfen kann" - so verkündete er es erneut in seiner morgendlichen Pressekonferenz am Mittwoch. Die Zahlen scheinen ihm recht zu geben: Seit der damalige Präsident Felipe Calderón 2006 das Militär in den Kampf gegen die Kartelle schickte, sind mehr als 250.000 Menschen im Drogenkrieg ums Leben gekommen.

Massaker in Mexiko: Polizeischutz für Trauernde
Der Linke López Obrador will vor allem die sozialen Ursachen für die Gewalt bekämpfen: Jugendarbeitslosigkeit und Korruption, für die er seine Amtsvorgänger verantwortlich macht. "Die Politik der letzten 36 Jahre ist in jeder Hinsicht gescheitert", sagt er. Seine Strategie werde allerdings erst langfristig Erfolge zeigen. Angesichts der jüngsten Explosion der Gewalt wirkt die Regierung hilflos.
"Wenn es möglich ist, Babys zu töten, Kinder zu jagen und Familien zu zerstören, ohne dass dies eine ungewöhnlich starke Reaktion von Seiten der Behörden hervorruft, bleibt nur eine Schlussfolgerung", schreibt der Politikwissenschaftler Alejandro Hope in der Zeitung "El Universal": "Das einzige Limit für die Gewalt liegt in der Vorstellungskraft der Mörder."
Die Kartelle nutzen offenbar die Zurückhaltung der Regierung aus, um ihre Macht zu demonstrieren. Vor drei Wochen belagerten Dutzende Bewaffnete des Sinaloa-Kartells die Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaats, Culiacán, nachdem die Polizei dort einen Sohn des in den USA inhaftierten Drogenbosses Joaquín "El Chapo" Guzmán festgenommen hatte. Um ein Blutbad zu verhindern, ließ die Regierung den Chapo-Sohn wieder laufen.
Polizei und Militär erschienen erst nach Stunden am Tatort
Auch die Region zwischen den Bundesstaaten Sonora und Chihuahua, wo die Mormonen leben, wird von Drogenbanden kontrolliert. Sie ist eine beliebte Route für Rauschgiftkuriere auf dem Weg in die USA. Vor zehn Jahren ermordete eine Gruppe Krimineller zwei Mitglieder der Gemeinde. Julián LeBaron, der Bruder eines Ermordeten, schloss sich daraufhin den Protestmärschen von Angehörigen der Opfer des Drogenkriegs an, wurde ein landesweit bekannter Aktivist.
Seine Vorfahren, eine Splittergruppe der Mormonen in den USA, war vor 130 Jahren nach Mexiko ausgewandert, weil sie hier nicht wegen Polygamie verfolgt wurden wie in ihrer Heimat. Sie bauen Nüsse und andere landwirtschaftliche Produkte an, in Mexiko sind sie hoch angesehen. Allerdings soll es Streit mit anderen Anwohnern um die Wasserrechte gegeben haben.
Seit dem Mord an seinem Bruder habe die Regierung der Gemeinde Polizeischutz gewährt, berichtete Julián LeBaron gegenüber mexikanischen Medien. Doch davon war am Montag nichts zu sehen. Nicht Polizisten waren als Erste am Tatort, sondern die Angehörigen. Erst viele Stunden nach dem Massaker erschienen Polizei und Militär.
Gezielter Anschlag oder fatale Verwechslung?
Unklar ist zudem das Motiv für die Morde: War es ein gezielter Anschlag auf die Mormonen, weil den Kartellen deren Friedensaktivismus nicht passte? Oder wurden die Frauen und Kinder Opfer einer fatalen Verwechslung, wie die Regierung unterstellt? Ein Cousin der Getöteten sagte, die Opfer seien von einem Drogenkartell als Köder benutzt worden, um Mitglieder einer konkurrierenden Bande anzulocken.
Sicherheitsminister Alfredo Durazo vertritt die These, dass die Mormonen im Krieg zwischen zwei rivalisierenden Banden versehentlich zwischen die Fronten geraten seien. Das Sinaloa-Kartell, so berichtete Durazo, mache dem in der Gegend herrschenden Juárez-Kartell strategisch wichtige Drogenrouten streitig.
Einen Tag vor dem Massaker war es in der Grenzstadt Agua Prieta zu einem bewaffneten Konflikt zwischen zwei örtlichen Banden von Drogenhändlern gekommen, die mit den beiden großen Kartellen verbündet sind. Die Verbündeten des Juárez-Kartells hätten daraufhin ein Mordkommando in die Mormonengegend geschickt, um eine mögliche Invasion der Verbündeten des Sinaloa-Kartells abzuwehren.
Die Killer verwechselten demnach die Mormonenfamilie mit ihren Rivalen. Die Frauen und Kinder reisten in großen SUV der Marke Chevrolet, "wie sie gern von den Kartellen benutzt werden", sagte Durazo.
Trumps Hilfe ist nicht erwünscht
In den USA hat das Massaker Entsetzen und Abscheu hervorgerufen. Zugleich bestärkt es Befürchtungen, dass sich Mexiko zu einem "Failed State" entwickelt, einem "gescheiterten Staat". Präsident Donald Trump hat López Obrador deshalb Hilfe im Kampf gegen die Kartelle angeboten. "Wenn Mexiko um Beistand bittet, um diese Monster zu vernichten, sind die USA bereit und in der Lage sich einzumischen und die Arbeit effizient auszuführen", twitterte er.
A wonderful family and friends from Utah got caught between two vicious drug cartels, who were shooting at each other, with the result being many great American people killed, including young children, and some missing. If Mexico needs or requests help in cleaning out these.....
— Donald J. Trump (@realDonaldTrump) November 5, 2019
Genau das möchte López Obrador jedoch vermeiden, er sieht darin einen Angriff auf Mexikos Souveränität. Er dankte Trump höflich und versicherte, Mexikos Institutionen seien selbst in der Lage, "Gerechtigkeit herzustellen".
Bislang hat der Mexikaner es geschafft, einen offenen Konflikt mit dem mächtigen Nachbarn zu vermeiden. Selbst im Wahlkampf hatte der Linke auf Angriffe gegen Trump verzichtet. Der revanchiert sich, indem er López Obrador ausgesucht freundlich behandelt. Zudem ist der Mexikaner ihm in der Migrationspolitik entgegengekommen.

Präsident Andrés Manuel López Obrador
Foto: José Méndez/ EPA-EFE/ REXDas Massaker an den Mormonen könnte dieses politische Stillhalteabkommen nun hinfällig machen. Trumps verbale Angriffe während des Wahlkampfs, als er die Mexikaner pauschal als Vergewaltiger und "Üble Typen" verunglimpfte, sind unvergessen.
Dabei trägt Washington für die Explosion der Gewalt in Mexiko eine gewisse Mitverantwortung: Die Schnellfeuergewehre, die bei dem Massaker an den Mormonen benutzt wurden, stammen aus den USA - sowie 70 Prozent aller Waffen, die bei Operationen gegen die Drogenkartelle beschlagnahmt wurden. Mittelsmänner der Kartelle, so López Obrador, kauften sie am liebsten in Texas - dort würden die Waffengesetze offenbar besonders lasch gehandhabt.