Millionenmetropole in Angst "Sie sind weiß, gehen Sie nicht raus!"

Bewaffnete ziehen durch die Straßen, immer wieder bricht Panik aus, Polizisten verzweifeln - der Terror macht das Herz von Mumbai zur Kampfzone. Ladenbesitzer machen dicht, Hotels weisen aus Furcht westliche Touristen ab.

Plötzlich rattert es. Schüsse.

In jeder Straße fallen Gittertüren in die Schlösser, Geschäftsleute verriegeln ihre Läden mit schweren rostigen Eisenketten. Gerade erst hatte sich herumgesprochen, dass die Polizei die von Terroristen besetzten Luxushotels "Taj Mahal" und "Oberoi" gestürmt hat - da fallen wieder Schüsse. Sofort kommen den Menschen wieder Bilder der vergangenen zwei Tage in den Kopf: überall Blut, Verletzte, Tote. Jetzt reagieren sie schnell. Sofort Ladenschluss, noch am Freitagmittag. Der Crawford Market, normalerweise so übervölkert, dass man kaum einen Schritt machen kann, ohne jemanden anzurempeln, ist innerhalb weniger Minuten menschenleer.

Randip Singh Munjral, ein Sikh mit schwarzem Turban, hat nicht zugemacht. Er sitzt fröhlich in seinem Laden, in dem er Wein, Bier, Alkoholika jeder Art verkauft. Gerade hat einer seiner vielen Mitarbeiter das Schaufenster mit Wodkaflaschen dekoriert. "Sieht gut aus, oder?", fragt er und grinst. Er will ein Zeichen setzen, gegen die Terroristen, gegen Angst und Panik. "Wenn ich jetzt schließe, machen die benachbarten Geschäfte auch zu. Also habe ich geöffnet, gestern, heute und auch morgen, auch wenn ich zurzeit keine Rupie Umsatz mache."

Nur drei andere Ladeninhaber sind seinem Beispiel gefolgt, ein anderer Alkoholhändler und zwei Imbissbetreiber. Bei den anderen überwiegt die Furcht ums Leben.

Zwei junge Männer mit Gewehren laufen durch die Shalimar Estate Drive Road. Sie fallen schon deshalb auf, weil sich sonst kaum ein Mensch auf dieser Hauptstraße bewegt. Sie sind höchstens 20, schlecht rasiert, tragen grüne T-Shirts und Jeans. Islamistische Terroristen? "Hier gibt's viel Alkohol", sagt einer der beiden und deutet mit seiner Waffe auf einen der zwei Läden. "Na und? Ich hab nichts gegen Alkohol", erwidert der andere. "Wir kommen zum Einkaufen wieder." Sie rennen weiter, in Richtung eines Krankenhauses, in dem Opfer der Anschläge versorgt werden.

Eine halbe Stunde später werden von dort Schießereien gemeldet.

Als Ladenbesitzer Munjral erfährt, dass gerade Bewaffnete an seinem Laden vorbeigelaufen sind, zuckt er mit den Schultern. "Ich habe keine Angst. Klingt zynisch, aber sie wollen mich nicht", sagt er. "Sie haben es auf Briten, Amerikaner und auf Juden abgesehen." Tatsächlich haben die Terroristen in den Hotels weiße Touristen gezielt nach ihren Pässen gefragt, und im Jüdischen Zentrum der Stadt kämpft die Polizei noch immer mit den Geiselnehmern. Im Fernseher auf der Ladentheke wird über neue Kämpfe aus einem überwiegend von Juden bewohnten Gebiet berichtet. "Seht ihr, sag ich doch", sagt Munjral zu seinen Mitarbeitern.

Von Schießereien in mehreren Stadtteilen ist plötzlich die Rede. Hier und da bricht Panik aus. Am Crawford Market tauchen ganze Kompanien von Polizisten auf, riegeln die Hauptstraße ab. Jetzt dürfen die wenigen Autos und Menschen, die noch durchwollen, auch nicht mehr passieren. Wer sich in einem Hotel in dieser Gegend einquartiert hat, weil es preiswerte, unscheinbare Absteigen sind, die vermutlich nicht im Fokus der Terroristen stehen, hat Pech. Auch hier werden die Gittertüren heruntergelassen. Die Gäste werden zu Gefangenen - zu ihrem eigenen Schutz.

Ein britisches Ehepaar, das am Vormittag aus London in einem Hotel direkt neben Munjrals Alkoholladen eingetroffen ist und nun zum Stadtbummel aufbrechen will, wird vom Personal zurückgehalten.

"Sie können auf keinen Fall auf die Straße!"

"Warum nicht? Wir wollen doch nur eine Kleinigkeit essen."

"Dann bestellen Sie sich etwas aufs Zimmer, aber gehen Sie nicht raus!"

"Aber dieser Mann dort geht doch auch", sagt die Britin und zeigt auf einen jungen Mann im Shalwar Kameez, der traditionellen Stoffhose mit knielangem Hemd, für den der Portier das Eisengitter beiseite schiebt.

"Ja, aber der ist Inder. Sie sind Weiße. Verstehen Sie?"

Das Paar verschwindet wortlos aufs Zimmer.

Auch neu ankommende Gäste haben es schwer. Die meisten Hotels weisen sie ab. Offizielle Begründung: Ausgebucht. Tatsächlich gibt es noch jede Menge freier Zimmer. Nur will kein Hotel, keine Pension derzeit Weiße aufnehmen.

Die Terroristen wollten einen Stadtkrieg entfesseln gegen Briten und US-Bürger, gegen die westliche und die jüdische Welt, gegen alle Weißen. Es gibt immer neue Gerüchte über neue Gefechte an neuen Schauplätzen in der Metropole. Die offenbar überforderte Polizei riegelt mal hier, mal dort einen Straßenzug ab. Wenn Schüsse fallen, weiß niemand, wer gerade schießt.

Der Polizist Srinath Saker entdeckt auf dem Crawford Market einen geöffneten Teestand und bestellt sich einen Becher. Er hat dunkle Augenringe.

"Ich weiß nicht, wie oft ich heute schon Alarm hatte", sagt er. "Terror ist für uns Polizisten in Mumbai nichts Neues, aber es waren immer Bombenexplosionen, oft Selbstmordattentäter. Da sind wir hingefahren, haben die Verletzten versorgt und Spuren gesichert." Er nimmt einen Schluck von dem dampfenden milchigen Tee. "Das hier ist anders. Das hier ist ein Kampf über viele Tage. Mit Geiselnahmen und Schießereien."

Er schüttelt den Kopf. Die indische Polizei war auf eine solche Herausforderung nicht vorbereitet.

Am schlimmsten, sagt Saker, sei die Panik der Menschen. "Wenn bei so vielen Leuten Panik ausbricht, können wir kaum gezielt handeln." Wie solle man bei einer rennenden Menschenmasse herausfinden, wo der Gegner ist?

Wer Saker reden hört, ahnt: Hier hat niemand die Lage im Griff. Die Stimmung in Mumbai ist permanent angespannt. Wo tauchen Bewaffnete auf? Wer wird das nächste Opfer? Das fragen sich alle, niemand weiß es - so halten die Terroristen eine ganze Stadt in Schach.

Die Eisengitter am Crawford Market werden wohl noch eine Weile geschlossen bleiben.

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