Mögliche Bodenoffensive Israel fordert Bewohner Südlibanons zur Flucht auf
Beirut/Jerusalem/New York - Die Warnungen, die die israelischen Behörden und das israelische Militär seit gestern Abend im Süden Libanons verbreiten, müssen die Bewohner das Schlimmste befürchten lassen. In Radionachrichten, auf Flugblättern oder in SMS-Botschaften an lokale Amtsträger fordert Israel alle Zivilisten auf, die Region so schnell wie möglich zu verlassen - sonst riskierten sie ihr Leben.
Wie die britische Tageszeitung "The Times" und das US-Blatt "Los Angeles Times" berichten, drängt Israel die Menschen zur Flucht, um seine Offensive gegen die Hisbollah in aller Härte fortsetzen zu können - eine mögliche Bodenoffensive eingeschlossen. Alle noch verbliebenen Einwohner südlich des Flusses Litani, etwa 25 Kilometer nördlich der Grenze zu Israel, sollten sich auf den Weg nach Norden machen, heißt es in den Warnungen. Israel werde "in Wort und Tat in den Dörfern des Südens" gegen die Hisbollah und Raketenangriffe vorgehen, lautete die im Militärsender al-Maschrik auf Arabisch ausgestrahlte Botschaft. "Deshalb müssen alle Einwohner Südlibanons südlich des Litani die Regionen zur eigenen Sicherheit sofort verlassen."
Die israelischen Truppen hatten ihre Angriffe auf Hisbollah-Stellungen im Südlibanon zuvor noch einmal verstärkt. Bei einem Gefecht mit Kämpfern der schiitischen Miliz wurden am frühen Morgen vier israelische Soldaten getötet. Das teilten die israelischen Streitkräfte mit. Die Soldaten hätten zu einer Einheit gehört, die jenseits der Grenze nach Hisbollah-Milizionären gesucht hätten. Sie seien in einen schweren Schusswechsel verwickelt worden, bei dem auch mehrere Soldaten verwundet worden seien. Auch die Hisbollah habe Verluste erlitten. In der Nacht waren zwei israelische Armee-Hubschrauber kollidiert, ein Pilot kam dabei ums Leben, fünf weitere Crew-Mitglieder wurden verletzt.
Normalerweise leben im südlichen Teil des Libanons, der das Hauptziel der israelischen Angriffe ist, etwa eine Viertelmillion Menschen. Rund 60 Prozent der Bevölkerung sind nach den nun schon neun Tage andauernden Militäroperationen bereits geflüchtet. Die israelische Warnung habe nun einen neuen Flüchtlingsstrom ausgelöst, schreibt die "Times". Hunderte hätten sich aus der Stadt Tyrus auf den Weg nach Norden gemacht. An ihren Autos befestigten sie weiße Laken oder Fahnen, in der Hoffnung, dass die Piloten der Kampfjets sie als Flüchtlinge erkennen. Rund 800 Ausländer hätten die Stadt auf dem Seeweg verlassen, heißt es in den Berichten.
Die Bewohner von Tyrus rechnen mit dem Schlimmsten. "Die Ausländer sind weg. Das heißt, jetzt fängt der Krieg richtig an", zitiert die "Times" einen besorgten Hafenarbeiter. Ein Sprecher des israelischen Militärs sagte gegenüber der "LA Times": "Es ist zur Sicherheit der Menschen, dass sie nicht hier bleiben." Verteidigungsminister Amir Perez drohte bereits mit einer möglichen Bodenoffensive. Sein Land habe nicht die Absicht, den Libanon wieder zu besetzen. Israel werde aber nicht zögern, bei seinen Einsätzen zu zeigen, dass es jeden Ort erreichen könne. Die Einrichtung einer Pufferzone im Südlibanon wird immer wahrscheinlicher.
Israel beruft Reservisten ein
Übereinstimmenden Berichten israelischer Medien zufolge könnte eine Ausweitung der bisher begrenzten Bodenoperationen bereits kurz bevorstehen. Der hochrangige Brigade-General Alon Friedman sagte der Zeitung "Maariv", dass die israelische Armee zurzeit "massiv" Reservisten aktiviere. "Es ist möglich, dass wir die Bodenoperationen in den kommenden Tagen verstärken", sagte Friedman dem Blatt. Führungskreise in Jerusalem seien gestern Abend zu Beratungen über die Größe einer Truppe zusammengekommen, berichtete die Nachrichtenagentur AP unter Berufung auf Sicherheitskreise.
Der Kommandeur der Bodentruppen, Benny Gantz, vertrat gegenüber "Maariv" die Ansicht, dass Luftschläge beim Kampf gegen die Hisbollah nicht ausreichten. "So weh es tut, Soldaten zu verlieren, wir wollen, dass die Mission erfolgreich ist", sagte Gantz. Unter Berufung auf hochrangige Militärs berichtete "Maariv" zudem, dass die Hisbollah-Miliz im Südlibanon trotz der massiven Angriffe der letzten Tage noch nicht bedeutend geschwächt sei.
Eine Armee-Sprecherin gab jedoch heute bekannt, dass die Raketenangriffe der Hisbollah auf Israel merklich nachgelassen hätten. Gestern seien nur rund 50 Geschosse im Norden Israels eingeschlagen. Dies sei verglichen mit den 140 Raketeneinschlägen des Vortages und dem durchschnittlichen Beschuss von 110 Raketen seit Beginn der Auseinandersetzungen am 12. Juli eine relativ geringe Zahl.
"Bis der Preis zu hoch ist"
Israels Ministerpräsident Ehud Olmert kündigte in einem Interview mit "Maariv" an, den Krieg gegen die Hisbollah-Miliz so lange fortsetzen, bis der Preis dafür zu hoch ist. Auf die Frage, wie lange die Offensive im Nachbarland noch andauern werde, sagte Olmert: "Bis wir an einem Punkt ankommen, an dem der Nutzen des militärischen Einsatzes nicht mehr den Preis wert ist."
Der Regierungschef führte seine Äußerungen nicht näher aus. Israel hatte seine Offensive im Libanon vor mehr als einer Woche eingeleitet, nachdem die Hisbollah zwei israelische Soldaten verschleppt hatte. Seitdem sind bei Angriffen im Libanon mehr als 300 Menschen getötet worden, die meisten von ihnen Zivilisten. Zudem kamen 34 israelische Soldaten und Zivilisten ums Leben. Die Vereinten Nationen gehen von mittlerweile rund 500.000 Binnenflüchtlingen aus. Die Preise für Lebensmittel und Energie zum Kochen sind in die Höhe geschossen.
Nach einer Sitzung des Uno-Sicherheitsrats hatte Israel Forderungen nach einem Waffenstillstand erneut zurückgewiesen. Uno-Generalsekretär Kofi Annan hatte Israel und die Hisbollah zu einer sofortigen Waffenruhe aufgerufen. Vor dem Weltsicherheitsrat in New York warf er der Hisbollah vor, mit ihren Raketenangriffen auf Israel und der Verschleppung zweier israelischer Soldaten "ein ganzes Land als Geisel" zu nehmen.
Israel wiederum hielt Annan übertriebene, "exzessive" Gewaltanwendung vor, wenngleich er der Regierung in Jerusalem das Recht auf Selbstverteidigung zugestand. Der israelische Uno-Botschafter Dan Gillerman erklärte, Israel werde seine Militäraktion nicht vorzeitig abbrechen, sondern diese werde "so lange dauern, wie sie dauern wird".
phw/AFP/AP