
Roma in Ungarn: Opfer von Gewalt, Opfer von Armut
Mordserie an Roma in Ungarn Ein Grabmal als Mahnmal
Fast fünf Jahre lang lag Éva Nagy da wie verscharrt - unter einem kleinen Erdhügel mit einem Holzkreuz ohne Namen. Manchmal, wenn Tibor Nagy seine ermordete Frau besuchte, musste er das Kreuz wieder gerade richten. Geld für Blumen hatten er und seine Kinder fast nie.
Jetzt tritt der Witwer vor das neue Grabmal. Lange betrachtet er den polierten Granit, schließlich murmelt er kaum hörbar: "Er ist sehr schön." Neben ihm steht seine Tochter Krisztina. Sie lächelt und bemüht sich, nicht zu weinen. Endlich hat ihre geliebte Mutter ein Grab.
Éva Nagy und ihr Schwager József wurden in der Nacht des 3. November 2008 im nordostungarischen Nagycsécs von Rechtsextremen erschossen. Es waren die ersten Morde einer Anschlagserie gegen Roma in Ungarn, bei der die Täter 2008 und 2009 sechs Menschen töteten und 55 weitere zum Teil schwer verletzten. Im August 2009 wurden die Mörder gefasst, vor einigen Wochen fiel das erstinstanzliche Urteil: Drei Täter erhielten lebenslänglich, ein Komplize 13 Jahre Haft.
SPIEGEL ONLINE berichtete nicht nur über das Urteil, sondern auch über die Lebensumstände der Überlebenden und der Angehörigen der Mordopfer, vor allem über Tibor Nagy und seine Kinder - und über die unwürdige Grabstelle der ermordeten Éva Nagy. Daraufhin meldete sich via E-Mail ein Leser, er schrieb: "Ich möchte Herrn Nagy den Grabstein für seine Frau bezahlen."
Zusammen mit ihm und der Familie Nagy organisierte SPIEGEL ONLINE die Anfertigung des Grabmals, vor wenigen Tagen nun konnte es eingeweiht werden. Der Spender, der bei Frankfurt am Main lebt, möchte anonym bleiben, auch zur Grabeinweihung wollte er nicht anreisen. Tibor Nagy hofft dennoch, ihn eines Tages persönlich treffen und ihm zu danken zu können. "Wir hätten das Geld für ein Grabmal niemals aufbringen können."
Schwer verletzt und von Armut gezeichnet
In Ungarn berichtete ein Teil der Medien über die außergewöhnliche Geste. Das lenkte die Aufmerksamkeit erneut auf die Lebensumstände der überlebenden Opfer der Mordserie und ihrer Angehörigen - nahezu alle leben in ärmlichen Verhältnissen.
Tibor Nagy etwa zog nach dem Mordanschlag zusammen mit seiner taubstummen Tochter Mária zu seiner ältesten Tochter Krisztina in ein Nachbardorf. Dort lebt die Familie seither von umgerechnet 370 Euro im Monat in einem kleinen Haus ohne fließendes Wasser. Wenn es kalt wird, haust die Familie in dem einzigen Zimmer mit Ofen. Nagy, der bei dem Mordanschlag schwer verletzt wurde, ist zuckerkrank und auf einem Auge blind, letztes Jahr erlitt er einen Herzinfarkt, der Kummer über den Mord an seiner Frau hat den 46-Jährigen vorzeitig altern lassen.
Ähnlich ergeht es auch den meisten anderen Betroffenen. In Tatárszentgyörgy, wo die Rechtsterroristen im Februar 2009 Róbert Csorba und seinen vierjährigen Sohn Róbika auf der Flucht aus dem zuvor angezündeten Haus erschossen, leben die Angehörigen noch immer direkt neben dem einstigen Tatort - in prekären Wohnverhältnissen.
Tímea B., 17, die Tochter der im August 2009 in Kisléta im Schlaf mit Kopfschüssen hingerichteten Mária Balogh, überlebte den Anschlag nur knapp und mit schwersten Verletzungen, sie wird ihr Leben lang körperlich gezeichnet sein. Sie wohnt bei einer Tante - Geld für eine gute Ausbildung des Mädchens fehlt.
Éva Kóka, die Witwe des im April 2009 im Dorf Tiszalök ermordeten Jenö Kóka, ist seit dem Mord an ihrem Mann arbeitsunfähig und musste ihre Stelle in einer Holzfabrik nach 22 Jahren aufgeben. Sie lebt bei ihrer Tochter und erhält umgerechnet knapp 100 Euro Rente monatlich, ihr Anwalt László Helmeczy unterstützt sie mit privatem Geld.
Geheimdienst schlampte, Polizei verwischte Spuren
Staatliche Hilfen gab es für die überlebenden Opfer und ihre Angehörigen bisher so gut wie keine - obwohl Vertreter der sozial-liberalen Regierung, in deren Amtszeit die Morde geschahen, bereits Ende 2009 eine Mitverantwortung des Staates einräumten. Denn: Geheimdienste hatten wichtige Erkenntnisse über die Täter verschlampt oder absichtlich nicht weitergegeben, an einzelnen Tatorten verwischte die Polizei Spuren, erst nach mehreren Anschlägen wurden die Ermittlungen zentralisiert.
Zwar sind die Lebensbedingungen der von den Roma-Morden Betroffenen seit langem auch ungarischen Behörden bekannt, doch staatliche Stellen machten bisher nur punktuell kleinere Summen locker, etwa um die Wohnsituation der Betroffenen zu verbessern.
Erst als der Anwalt László Helmeczy vor einigen Wochen einen dramatischen öffentlichen Appell an den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán richtete, entschloss sich die national-konservative Regierung zum Handeln: Sie kündigte an, die Opfer zu entschädigen und dabei auch die langfristige materielle Absicherung der Betroffenen zu berücksichtigen. "Es geht um staatliche Verantwortung", sagt Minister Zoltán Balog, der das Vorhaben koordiniert. "Während der Mordserie haben Beamte Fehler gemacht und vielleicht sogar strafbare Unterlassungshandlungen begangen. Deshalb müssen wir als Staat handeln." Der Bürgerrechtler und Roma-Aktivist Aladár Horváth wertet das Entschädigungsvorhaben als "späte, aber begrüßenswerte Geste" des Staates gegenüber den Opfern.
Neue Ermittlungen
Damit nicht genug: Auf Druck von Bürgerrechtlern hat das Nationale Ermittlungsamt (NNI), Ungarns zentrale polizeiliche Ermittlungsbehörde, neue Ermittlungen im Fall der Roma-Morde aufgenommen, da seit längerem bekannt ist, dass ein oder mehrere Mittäter noch frei herumlaufen. Außerdem vermuten Ermittler, dass die verurteilten Täter ein Netzwerk von Unterstützern hatten, die finanzielle und logistische Hilfe leisteten - Hinweisen darauf waren die Behörden bisher nicht nachgegangen.
Der liberale Politiker József Gulyás, der 2009/2010 einen Untersuchungsausschuss zu der Mordserie mitgeleitet hatte, begrüßt die Neuaufnahme der Ermittlungen und hofft, dass "die Schlampereien der Behörden endlich aufgeklärt werden". Zugleich fordert er die Orbán-Regierung auf, das Thema nicht für ihren Wahlkampf im kommenden Jahr zu missbrauchen. "Es stimmt, die meiste Mitverantwortung für das Ausmaß der Mordserie trägt zwar die frühere sozialistisch-liberale Regierung", sagt Gulyás, "aber die Orbán-Regierung hätte schon vor drei Jahren anfangen können, die Mordserie ernsthafter zu untersuchen."
Tibor Nagy hofft, dass eines Tages die Wahrheit ans Licht kommt. Innere Ruhe würde es ihm nicht verschaffen, sagt er, auch die Frage nach dem Warum werde ihm niemals jemand beantworten können. Er möchte nur Gewissheit darüber, wer geschossen hat.
Das Grabmal, sagt er, habe er extra so anlegen lassen, dass auch seine sterblichen Überreste darin Platz finden. "Eines Tages werde ich wieder bei meiner Frau sein", sagt er, "dann für immer."