
Gedenken an Stalins Opfer: "Letzte Adresse"
Gedenken in Moskau Stolpersteine für Stalins Opfer
Der 13. April war für den Publizisten Sergej Parchomenko wieder ein prall gefüllter Tag. In Moskau war es noch trüb und grau, das Thermometer zeigte 12 Grad, als Parchomenko mit einigen Freunden zu seiner nächsten Aktion aufbrach. Sein Ziel: der Gogol-Boulevard, die Straße Marosejka und der Leningrader Prospekt. In seinem Gepäck: 14 kleine metallene Gedenktafeln, die er an verschiedenen Häusern in diesen Straßen anbringen wollte.
Es waren nicht die ersten Tafeln dieser Art, es gibt sie schon an verschiedenen Stellen in der Stadt. In der Choromny-Sackgasse Nummer 2 zum Beispiel, an einem achtstöckigen grau gestrichenen Haus, das in der Nähe der Metrostation Rotes Tor steht. Es wurde Ende der Zwanzigerjahre für Angehörige der stalinschen Nomenklatura erbaut.
Auf Augenhöhe sind dort einige Tafeln angebracht: Sie sind aus verzinktem Stahl, 11 mal 19 Zentimeter groß, auf ihrer linken Seite ist ein Quadrat ausgestanzt - durch das Loch kann man den Putz der Mauer sehen. "Hier lebte Sergej Konstantinowitsch Pastuchow, Diplomat, geboren 1887, verhaftet am 16.5.1939, erschossen am 2.4.1940, rehabilitiert 1957", steht auf einem Schild.
Die Nachrichten auf den anderen Tafeln klingen ähnlich: Michail Karskij, erschossen am 26.11.1937, Boris Melnikow, erschossen am 28.7.1938, Mark Plotkin, erschossen am 28.7.1941. Die Choromny-Gasse Nummer 2 war die letzte Adresse im bürgerlichen Leben dieser vier Männer. Dann wurden sie aus diesem Haus verschleppt in die Keller des nicht weit entfernten Geheimdienstes und später per Genickschuss umgebracht.
Allein in den Dreißigerjahren ließ Stalin so fast 700.000 Menschen ermorden und dreieinhalb Millionen in Lager deportieren. Sie waren angeblich Verschwörer, Trotzkisten, Spione.
Parchomenko, 52, Moderator beim Kreml-kritischen Radiosender Echo Moskwy, will an die damals zu Unrecht Verfolgten erinnern. Die meisten Russen verweigern sich bisher einer ehrlichen Aufarbeitung der Geschichte, weil sie ahnen oder wissen, dass die Grenzen zwischen Tätern und Opfern quer durch die eigenen Familien gingen.
"Die letzte Adresse", so heißt Parchomenkos Projekt. Er hat sich inspirieren lassen von den Stolpersteinen, den in Bürgersteige eingelassenen Gedenkplaketten, die in Deutschland und 18 anderen europäischen Ländern an Opfer des Nationalsozialismus erinnern. "Ich möchte erreichen, dass bei uns nicht vergessen wird, was Stalin angerichtet hat", sagt Parchomenko.
Im Haus Nummer 2 lebt heute die Lehrerin Maria Pastuchowa - in der Dreizimmerwohnung ihres Großvaters Sergej. Der namhafte Iranist war von Stalin 1933 als Botschafter nach Persien geschickt worden, dann aber in Ungnade gefallen. "Bildung einer konterrevolutionären Organisation", lautete der Vorwurf. Neben ihm wohnten weitere Mitarbeiter des Außenministeriums: Karskij hatte als Botschafter in der Türkei gedient, Melnikow als Generalkonsul in New York, Plotkin zum Schluss als Chef der Rechtsabteilung. Fast alle waren Juden.
"Es ist gerade jetzt wichtig, solch ein Zeichen zu setzen - weil der Kreml und die Staatsmedien Stalin in einem immer rosigeren Licht darstellen", sagt Maria Pastuchowa. Sie trägt ein Armband in den Nationalfarben der Ukraine, aus Protest gegen die Annexion der Krim und Putins Unterstützung für die Rebellen im Osten des Nachbarlandes.

Nobelpreisträger Andrej Sacharow 1988 in Paris
Foto: © Reuters Photographer / Reuter/ ReutersDie angesehene Bürgerrechtsorganisation Memorial, gegründet vom Atomphysiker und Friedensnobelpreisträger Andrej Sacharow , hat Parchomenko geholfen, eine Liste mit den Moskauer Stalin-Opfern zusammenzustellen.
Auch die Stadtregierung habe zuerst mit großer Begeisterung reagiert, erzählt Parchomenko. Das hat sich dann nach dem Beginn des Ukrainekriegs etwas geändert. Man will sich nicht mehr direkt engagieren, der Druck der nationalkonservativen Putin-Anhänger ist zu groß, auch namhafte Geldgeber sind abgesprungen. In der Stadtregierung wurde das Projekt in eine Arbeitsgruppe abgeschoben. "Wenigstens aber tolerieren sie uns", sagt Parchomenko, "das ist heutzutage schon was."
Der Kreml hingegen hatte im vergangenen Jahr seine Kampagne gegen unbequeme Nichtregierungsorganisationen verschärft, auch Memorial ist ständig im Visier von Putins Staatsanwälten, weil es teilweise aus dem Ausland finanziert wird. Die Aktion "Letzte Adresse", inzwischen offiziell eine Stiftung, wäre schwerer zu unterdrücken. Sie kann sich auf das Gesetz über die Rehabilitierung von Opfern politischer Repressionen berufen, das noch unter Sowjetpräsident Michail Gorbatschow angenommen wurde. Und sie sammelt das nötige Geld übers Internet - bisher sind umgerechnet fast 20.000 Euro zusammengekommen.
"Noch wichtiger ist", sagt Parchomenko, "dass die Namen derjenigen, derer gedacht werden soll, von den Moskauern selbst vorgeschlagen werden. Hinter jeder Tafel steht also ein Mensch, der sich tatsächlich Gedanken über unsere Geschichte macht."
