Moskauer Anschlagsopfer "Vor dem Flughafen hatte ich schon immer Angst"

Anschlagsopfer Stotz: Die zweifache Mutter lebt seit 2007 mit ihrer Familie in Russland
Foto: Moritz GathmannTerroranschlag im Flughafen Domodedowo
SPIEGEL ONLINE: Frau Stotz, Sie liegen seit dem in einem Moskauer Krankenhaus. Bei der Explosion kamen 35 Menschen ums Leben, Hunderte wurden verletzt, darunter auch Sie. Haben die Sicherheitskräfte aus Ihrer Sicht versagt?
Stotz: Ich denke immer an Israel, das ist so ein gefährliches Land. Aber dort werden die Flughäfen gut bewacht. Man kann also einen Airport vor solch einem Anschlag schützen. Das ist ja auch etwas anderes als in der Moskauer Metro mit den vielen Stationen. Aber vielleicht ist Russland zu groß, um sich um alles zu kümmern.
SPIEGEL ONLINE: Spüren Sie Wut?
Stotz: Nein. Ich bin Gott dankbar, dass ich am Leben bin und dass ich weiter für meine Kinder da sein kann.
SPIEGEL ONLINE: Wie haben Sie das Attentat erlebt?
Stotz: Ich fuhr mit dem Auto zum Flughafen, um einen Kollegen meines Mannes abzuholen. Dann bin ich durch den Eingang vom Parkplatz in den internationalen Terminal gegangen. Ich habe mich schon darüber gewundert, dass im Gang zwar ein Gepäckkontrollgerät stand, es aber nicht in Betrieb war.
SPIEGEL ONLINE: Stand dort ein Polizist oder ein Wachmann?
Stotz: Ich habe niemanden gesehen. Ich trank zunächst einen Kaffee und stellte mich um 16:22 Uhr in die Gruppe der Wartenden. Das weiß ich so genau, weil ich auf die Anzeigetafel geschaut habe. Da stand ich dann fünf oder sieben Minuten. Danach kam mir der Gedanke, weiter nach vorne, in Richtung Zoll zu gehen. Eigentlich darf man da gar nicht hin - aber niemand hat mich aufgehalten. Um 16.30 Uhr drängelte ich mich vor. Und zwei Minuten später knallte es.
SPIEGEL ONLINE: Was war Ihr erster Gedanke?
Stotz: Erst dachte ich, dass vielleicht eine Stromleitung kaputtgegangen ist. Ich hörte Schreie: "Explosion! Ein Terrorakt!" Dann verstand ich, dass ich mich schnell verstecken muss. Also bin ich zu einem Café gerannt, obwohl das nicht Richtung Ausgang lag. Aber ich hatte Angst vor einer zweiten Explosion. Außerdem habe ich im Schock sowieso nicht verstanden, wohin ich laufe.
SPIEGEL ONLINE: Sie waren verletzt. Haben Sie keinen Schmerz gespürt?
Stotz: Nein. Erst im Café hat eine Frau zu mir gesagt hat, dass ich eine Wunde am Oberschenkel habe und blute.
SPIEGEL ONLINE: Wer hat Ihnen geholfen?
Stotz: Es war eben diese etwa 40-jährige Frau. Ich hatte einen kugelförmigen, drei Zentimeter großen Metallsplitter im rechten Oberschenkel. Den hat sie mit einem sauberen Handtuch entfernt. Wahrscheinlich stand auch sie unter Schock, sonst hätte sie das wohl nicht gemacht. Dann hat sie mich verbunden.
SPIEGEL ONLINE: Haben Sie andere Opfer gesehen?
Stotz: Zuerst nicht. Wir bekamen die Erlaubnis, durch einen Gang nach draußen zu laufen. Der Rauch war schon so dicht, dass wir Angst hatten zu ersticken. Da habe ich auch gesehen, dass auf dem Boden viele Menschen lagen, die tot oder sehr schlimm verletzt waren. Aber die Frau, die bei mir war, hat immer gesagt: "Schauen Sie jetzt nicht da hin, laufen Sie einfach weiter." Sie hat sehr vielen Menschen geholfen, ihnen Mut zugesprochen. Ein echter Engel.
SPIEGEL ONLINE: Wann können Sie das Krankenhaus verlassen?
Stotz: Ich bekam zunächst Fieber und habe mich immer wieder an die Momente am Flughafen erinnert. Jetzt kann ich schon wieder laufen. Hoffentlich werde ich in den kommenden Tagen entlassen - für Freitag habe ich Flugtickets nach Deutschland.
SPIEGEL ONLINE: Haben Sie keine Angst?
Stotz: Nein. Ich fliege ja von einem anderen Flughafen. Vor Domodedowo hatte ich schon immer Angst: zu groß, zu unübersichtlich. Und jetzt habe ich einfach zu schlimme Erinnerungen.
SPIEGEL ONLINE: Hat Ihre Familie Sie schon besucht?
Stotz: Mein Mann natürlich. Vor meinen acht- und 14-jährigen Söhnen haben wir versucht, den Vorfall zu verheimlichen. Ich wollte wirklich warten, bis alles wieder in Ordnung ist. Aber der Ältere hat wohl schon über Facebook alles erfahren.
SPIEGEL ONLINE: Bereuen Sie, dass Sie nach Russland gezogen sind?
Stotz: Nein. So etwas kann überall passieren.
SPIEGEL ONLINE: Wie finden Sie Trost?
Stotz: Ich bin sehr gläubig. Deshalb brauche ich wohl auch weniger psychologische Unterstützung als andere. Ich sehe in jeder Situation in meinem Leben Gottes Hilfe oder Gottes Plan. Eigentlich stand ich lange in der Masse der Menschen, in der sich der Attentäter dann in die Luft sprengte. Aber zwei Minuten vor der Explosion habe ich meinen Standort gewechselt. Wer weiß, was sonst passiert wäre.