Besuch in Berlin Mursi rechnet mit dem Westen ab
Berlin - Den ganzen Tag hatte sich Mohammed Mursi schon Kritik anhören müssen. Vor allem von der Kanzlerin, die auf seine verbindlichen Worte vor Journalisten mit harten Mahnungen geantwortet hatte.
Am Abend war für Ägyptens Präsidenten Mohammed Mursi die Gelegenheit gekommen, seinerseits auszuteilen. "Der Westen hat die arabischen Diktaturen unterstützt im Namen des Kampfs gegen den Terrorismus. Das war nicht angenehm für die Menschen auf der anderen Seite", sagte er bei einer Veranstaltung der Körber-Stiftung in Berlin. Die Beziehungen zwischen Ägypten und Deutschland sollten in Zukunft auf Augenhöhe stattfinden, forderte Mursi. Es war ein selbstbewusster, stolzer Präsident, der da sprach - der erste demokratisch gewählte seines Landes.
Dünnhäutig zeigte er sich im Gespräch mit SPIEGEL-Chefredakteur Georg Mascolo. Als die Frage aufkam, ob er sich für seine Aussage, "Zionisten" seien "Blutsauger", entschuldigen wolle, entgegnete er lächelnd, er habe die Frage an diesem Tag schon fünfmal gehört. Statt zu antworten, holte er erst einmal aus, um an das Recht des palästinensischen Volkes auf seinen eigenen Staat zu erinnern und israelische Menschenrechtsverletzungen anzuprangern.
Mursi spielte ganz die Rolle des entschlossenen Staatsmannes, Chef einer der wichtigsten Regionalmächte im Nahen Osten. Die Rede war auch ans eigene, heimische Publikum gerichtet. Mit Nationalismus und Israel-Kritik kann er zu Hause punkten. Außer dem internationalen Parkett bleiben ihm nicht viele Trümpfe. Zu Hause toben in mehreren Städten Krawalle, die Wirtschaft liegt am Boden.
Als Markus Löning, Menschenrechtsbeauftragter der Bundesregierung, die Entwicklungen in Ägypten kritisierte, wies Mursi jegliche Verantwortung von sich. Menschenrechtsverletzungen - dafür seien Übergriffe durch Vertreter des alten Regimes und unbekannte gewaltbereite Gruppen verantwortlich, die Regierung nicht.
Am Mittag hatte er noch ganz anders geklungen. Da erwähnte Mursi auf der gemeinsamen Pressekonferenz mit der Kanzlerin alles, was die Deutschen über Ägyptens politische Zukunft gerne hören wollten: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Religionsfreiheit, die Trennung von Staat und Religion. Auch hatte er zuvor zugesichert, die Arbeit der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung werde in Ägypten auf eine rechtliche Grundlage gestellt.
Doch Merkel sagte kein Wort zum Schuldenerlass von 240 Millionen Euro, den Deutschland Ägypten in Aussicht gestellt hatte. Kein Wort zu neuen Projekten der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Stattdessen Mahnungen: "Jetzt kommt es darauf an, dass die Arbeit, die noch getan werden muss, auch getan wird", sagte Merkel. Angesichts der anhaltenden Krawalle in Ägypten wies sie Mohammed Mursi darauf hin, dass eine gute wirtschaftliche Entwicklung zu politischer Stabilität beitrage. Der Satz gilt auch umgekehrt.
Mursi versucht die deutschen Investoren und Touristen zurückzulocken
Ägypten ist seit dem Aufstand gegen Husni Mubarak im Februar 2011 nicht zur Ruhe gekommen. Viele Investoren warten ab, Touristen bleiben aus, die Wirtschaft stagniert, Arbeitslosigkeit und Armut steigen, die Unzufriedenheit vieler Ägypter wächst und inzwischen offenbar auch die Krawallbereitschaft. Auch am Mittwoch hielt die Gewalt an. In der vergangenen Woche kamen mehr als 60 Menschen ums Leben.
Noch am Vorabend von Mursis Besuch hatte das Auswärtige Amt eine neue Reisewarnung herausgegeben. Demnach sollen sich Deutsche in Zukunft auch vom Ägyptischen Museum fernhalten, das im Zentrum von Kairo liegt. Es gilt als eine der meistbesuchten Sehenswürdigkeiten des Landes. Vor der Revolution machten mehr als eine Million Deutsche im Jahr Urlaub in Ägypten. Nun ist man in Kairo froh, wenn es noch halb so viele sind.
Mursi muss deutsche Investoren und Touristen zurück ins Land locken, wenn es wirtschaftlich vorangehen soll. Doch fraglich ist, ob der Präsident es überhaupt schaffen kann, die Gewalt im Land rasch wieder unter Kontrolle zu bringen.
Der ägyptische Staat verliert an Legitimität
"Auf der einen Seite sieht man politische Demonstrationen, aber zunehmend auch unpolitische Proteste", sagte Stephan Roll, Ägypten-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), SPIEGEL ONLINE. Letztere seien schwieriger wieder in den Griff zu bekommen. Welche Zugeständnisse könnte der Präsident machen, wo es keine politischen Forderungen gibt?
"Wir sehen eine besorgniserregende Zuspitzung der Übergriffe", sagt Roll. "In den Städten am Suezkanal sieht man, dass die Verbreitung von Handfeuerwaffen zugenommen hat." Woher die Waffen stammen - aus geplünderten Polizeistationen, Gaddafi-Arsenalen oder Eigenbeständen - ist unklar.
Ägyptens Militärchef warnte am Dienstag schon vor einem Staatskollaps. Der Staat verliere zunehmend an Legitimität, sagt Roll. "Ein großer Teil der Bevölkerung wendet sich komplett ab in einer allgemeinen Skepsis gegenüber der Politik." Zuversicht hört sich anders an.
"Meine Hoffnung ist, dass es nun doch Zugeständnisse gibt, etwa was die Verfassung angeht, aber dies bleibt abzuwarten. Beide Seiten müssen sich kompromissbereit zeigen - nicht nur Mursi, sondern auch die Opposition", sagt Experte Roll.