Muslimbrüder gegen Demonstranten Abrechnung im Folterkäfig

Polizisten vor dem Präsidentenpalast in Kairo: Eingekesselt von Islamisten
Foto: Petr David Josek/ APDie Islamisten erwischten Mohamed Omar, als er gerade Verbandszeug zu einer Tankstelle brachte, in der Verletzte versorgt wurden. "Du bist ein Feind Gottes!", brüllten sie ihn an. "Es waren fünf Männer. Sie schlugen mich und zerrten mich weg", erzählt Omar, ein Kairoer Computerfachmann. In seinem Gesicht sind Blutergüsse zu sehen, seine Augen sind zugeschwollen, die Handgelenke noch aufgeschürft vom Kabelbinder, mit dem sie ihn fesselten.
Sie brachten ihn in eine Art Käfig, er war eingekesselt zwischen einem Tor des Präsidentenpalastes, metallenen Straßenbarrieren und einer Menge aus Uniformierten. In diesem Kessel verhörten und quälten Mitglieder der Muslimbrüder und anderer islamistischer Gruppen ihre sogenannten "Gefangenen".
Mohamed Omar ist einer von vielen Demonstranten, die in der Nacht zu Donnerstag vergangener Woche von Islamisten zum Teil mehr als zwölf Stunden festgehalten wurden. Nun kommen immer mehr Details über diese Stunden ans Licht. Sie legen nicht nur ein eindrucksvolles Zeugnis für die Gewaltbereitschaft zumindest von Teilen der Bruderschaft ab, sondern auch für ihren Hang zu einer zutiefst von Willkür geprägten Selbstjustiz.
Am vergangenen Mittwoch hatten sich Mursi-Anhänger und Gegner vor dem Präsidentenpalast im Nobelviertel Heliopolis erbittert bekämpft. Beide Seiten waren extrem gewalttätig, prügelten mit Baseballschlägern aufeinander ein, gebrauchten Schusswaffen, warfen Steine und Molotow-Cocktails. Es gab acht Tote, die Muslimbrüder reklamierten alle Opfer für sich, doch das stimmt wohl nicht ganz. Sichere Angaben gibt es dazu aber nicht.
Rund 140 Menschen, darunter auch Frauen und Minderjährige, wurden "verhaftet" - nicht von der Polizei, sondern von den Islamisten. "Das ist ein unglaublicher Vorgang", sagt die Menschenrechtsanwältin Ragia Omran, die selbst vor Ort war. "Sie haben keinerlei Recht dazu."
Um den Präsidentenpalast herum hatten die Islamisten nicht nur eine, sondern mehrere improvisierte "Kammern" gebildet. Mohamed al Garhi, ein Journalist der Tageszeitung "Al-Masri al-Joum", hatte Zutritt zu einem solchen Raum, der sich in der Nähe der Omar-Bin-Abdel-Aziz-Moschee befand. "Erst wollten sie mich nicht reinlassen", erzählt er. Aber dann sei ein Freund von ihm vorbeigekommen, der für Misr TV arbeitet, den Sender der Muslimbrüder. Er habe Ghari hineingeschleust.
Blutigste Nacht seit der Revolution
"Dort waren etwa 15 Mitglieder der Bruderschaft - große, kräftige Typen, die aussahen wie Bodybuilder. Sie prügelten mit Fäusten auf die Gefangenen ein und traten sie mit Füßen, rissen ihnen die Kleider vom Leib." Er beobachtete, wie die Islamisten immer neue junge Männer brachten, die sie zufällig aus der Menge pickten. Geld, Telefone und Ausweise wurden ihnen abgenommen. Später wurden sie an die Polizei übergeben. "Die Muslimbrüder fragten die jungen Männer, wer sie bezahlt habe, und beschuldigten sie, Diebe oder Anhänger des alten Regimes zu sein."
Drei der Muslimbrüder hätten eine Art Führungsrolle innegehabt und den Schlägern Befehle erteilt. "Wenn die Gefangenen die Beschuldigungen zurückwiesen, wurden die Prügel intensiver", erzählt Garhi. Einer der Männer habe gefleht: "Ich bin ein gebildeter Mann. Ich habe ein Auto. Sehe ich aus wie ein Dieb?" Die meisten der Gefangenen seien zu schwach gewesen, um zu sprechen. Zwei von ihnen waren bewusstlos und in einem lebensbedrohlichen Zustand.
"Was dort passiert ist, würde ich Folter nennen", sagt Garhi.
Eine Untersuchungskommission des Justizministeriums hat inzwischen in einer offiziellen Stellungnahme bekanntgegeben, dass in dieser Nacht, die blutigste seit der Revolution vor knapp zwei Jahren, 31 Menschen gefoltert worden sind. Die Menschenrechtsanwältin Ragya Omran besteht darauf, dass die Zahl der Opfer noch höher sei. "116 Personen sind schwer misshandelt worden."
Die Muslimbruderschaft beharrt auf ihrer eigenen Version der Geschichte: "Diese Leute hatten Waffen", erklärt Mahmoud Hussein, Generalsekretär der Brüder. "Sie haben uns angegriffen, und wir haben uns nur verteidigt." Er räumt ein, dass unter Leuten, die Gefangene machten, Muslimbrüder gewesen seien. Sie hätten die Männer allerdings umgehend der Polizei übergeben. Die Proteste verteidigt er trotz der Ausschreitungen: "Es ist unsere Pflicht, unseren demokratisch legitimierten Präsidenten zu verteidigen." Bei den Gefangenen handele es sich um Anhänger des alten Regimes und um bezahlte Unruhestifter.
Besonders brisant ist die Tatsache, dass auch Präsident Mursi diese Version zunächst vertrat. Wie viel er über die willkürliche Selbstjustiz der Islamisten wusste, ist unklar. Eine Aussage aus seiner Stellungnahme im Nationalfernsehen am Donnerstag vergangener Woche wirft allerdings Fragen auf. Mursi sagte, die Gefangenen hätten Verbindungen zur politischen Opposition gestanden; sie seien bezahlt worden, um Gewalt zu verüben. Dabei scheint Mursi sich auf die von den Islamisten erzwungenen Aussagen der Gefangenen zu beziehen.
Menschenrechtler beklagen Kooperation von Islamisten und Polizei
"Zu diesem Zeitpunkt waren die Protokolle der Staatsanwaltschaft noch gar nicht freigegeben", sagt Ragia Omran. Sprecher der Muslimbrüder und der Regierung versicherten, Mursi habe sich nur auf die offiziellen Geständnisse bezogen. "Es gab aber gar keine Geständnisse und auch keine Beweise", sagt Omran,"so gut wie alle Festgenommenen wurden am nächsten Tag wieder freigelassen, weil sie unschuldig waren". Sie halte es für einen Skandal, dass Mursi die Gefangenen vorschnell öffentlich diskreditiert habe.
"Das Innenministerium hat nichts unternommen, um die Bürger vor der Brutalität und Selbstjustiz der Islamisten zu schützen", sagt Omran. Auch der Journalist Ghari sagt, er sei schockiert gewesen von der Zusammenarbeit zwischen Islamisten und Polizei. "Sie haben die Misshandlungen nicht nur geduldet, sie haben sie auch unterstützt, indem sie ihre Folterkammern abschirmten." Inzwischen sagte ein Sprecher der Mursi-Regierung der "New York Times", dass eine Untersuchung der Vorfälle eingeleitet würde.
Seit der blutigen Nacht wird verstärkt darüber diskutiert, inwiefern eine Miliz der Bruderschaft existiert, Schläger, die unter anderem in sogenannten Sportclubs trainieren. Von Seiten der Muslimbrüder wird bestritten, dass die brutalen Verhöre in irgendeiner Form organisiert gewesen seien.
"Zumindest gab es eine hierarchische Struktur", sagt Garhi, "bei den Muslimbrüdern ist eigentlich alles organisiert". Die Gewalt selbst habe er jedoch als sehr spontan empfunden. "Ich konnte die Wut sehen, mit der sie zuschlugen, das Glühen der Rache in ihren Augen. Sie befanden sich im Dschihad."
Am Morgen nach den Kämpfen rauchten in den Seitenstraßen vor dem Präsidentenpalast in Kairo ausgebrannte Autowracks, in der Luft lag der Geruch von verbrannten Reifen und Tränengas - und Muslimbrüder präsentierten sich ziemlich unverhohlen als Sieger eines Krieges. "Das ist jetzt hier unser Gebiet", sagte Fatih al-Mahdi, "wir haben unseren Präsidenten in einem heldenhaften Kampf beschützt und klar gewonnen".
Die Trophäen dieses Sieges kauerten hinter Mahdi in der Morgensonne. Vor einem Tor des Palasts hatten die Muslimbrüder 63 junge Männer zusammengepfercht, wie Tiere stellte man sie zur Schau. Ängstlich blinzelten sie in die grelle Morgensonne, allesamt mit geschwollenen und blutigen Gesichtern, von Hämatomen übersät.
Fotos von der brutalen Szene, die viel über den Hass zwischen den politischen Gegnern im Machtkampf in Ägypten und auch über die Siegsgewissheit der Muslimbrüder an diesem Morgen aussagte, waren nicht erwünscht. "Das sind unsere Gefangenen", sagte Madih, der sich selbst als Anwalt bezeichnet, "für sie gelten wie im Krieg die Genfer Konventionen, und die verbieten Fotos".