Podcasterin aus Myanmar
»Aung San Suu Kyi geht es wie vielen Frauen in Myanmar – sie wurde mundtot gemacht«
Viele Frauen in Myanmar erleben täglich Gewalt. Wie sich diese Unterdrückung auch im Putsch gegen Aung San Suu Kyi zeigt – und warum die Aktivistin Nandar in ihren Podcasts vor allem über Sex und den weiblichen Körper spricht.
In Reportagen, Analysen, Fotos, Videos und Podcasts berichten wir weltweit über soziale Ungerechtigkeiten, gesellschaftliche Entwicklungen und vielversprechende Ansätze für globale Probleme.
Am Tag vor dem Interviewtermin schickt Nandar, Aktivistin und Podcasterin aus Myanmar, diese WhatsApp-Nachricht: »Ich wollte dir nur mitteilen, sollte ich morgen früh nicht online und erreichbar sein, liegt es am Militär. Hast du es schon in den Nachrichten gehört?«
Tage vorher schon war über so einen Schritt spekuliert worden. Spannung gab es vor allem wegen angeblichen Wahlbetrugs bei den Parlamentswahlen im November 2020, bei denen Suu Kyi eine zweite Amtszeit und ihre Partei NLD nach offiziellen Angaben die absolute Mehrheit geholt hatten. Nach jahrzehntelanger Militärdiktatur war Suu Kyi 2015, bei den ersten freien Wahlen seit 1962, an die Macht gekommen.
Am 1. Februar patrouillieren Soldaten auf den Straßen der Hauptstadt Naypyidaw und der größten Stadt Yangon. Die Aktivistin Nandar, die sich nur bei ihrem Vornamen nennt, erlebt den Putsch morgens zu Hause, in ihrer Wohnung in Yangon. Dass etwas nicht stimmt, merkt sie daran, dass sie keinen Internetempfang mehr hat. Ihr Handy kann sich nicht in die sozialen Netzwerke einwählen, die sie sonst gleich beim Aufstehen öffnet. Das kommt ihr komisch vor.
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PRABIN RANABHAT / Feminist Talks with Nandar
Nandar, Jahrgang 1995, ist eine Autorin und Übersetzerin aus Myanmar. Sie bloggt und hat zwei Podcasts: »Feminist Talks« und »G-Taw Zagar Wyne«. Darin beschäftigt sie sich mit Feminismus in ihrem Heimatland und spricht Themen an, die in der myanmarischen Gesellschaft tabuisiert werden, zum Beispiel Sexualität und Fragen rund um den weiblichen Körper.
SPIEGEL: Nandar, was haben Sie gedacht, als Sie von dem Putsch erfahren haben?
Nandar: Als ich wieder Internet hatte, saß ich stundenlang auf einer Sporttasche, den Laptop auf den Knien, ich habe gegoogelt, gegoogelt, gegoogelt. Mir all die schlimmen Nachrichten reingezogen. Ich war traurig, geschockt, bin es noch. Aber zur Wahrheit gehört: Meine Freunde und ich, wir sind in einer Diktatur aufgewachsen. Wir wussten tief in uns, dass dieser Putsch geschehen wird. Wir wussten immer, wie mächtig das Militär ist. Es hätte vor fünf Jahren passieren können, vor zwei Jahren, oder eben jetzt.
Nandar: Ja, ich mache das auch jeden Tag. Wir stehen da, schlagen auf Töpfe und Pfannen, am Ende beklatschen wir uns gegenseitig, um durchzuhalten. Aber wir ziehen mittlerweile auch auf die Straßen. Menschen rufen: »Lasst Aung San Suu Kyi frei!« Wir wollen ein demokratisches Land haben. Heute waren wir auf einem Fahrradprotest. Bei uns war alles friedlich, aber anderswo gab es gewaltsame Zusammenstöße mit den Sicherheitskräften. Das Militär hat die Proteste ja verboten, es gibt Ausgangssperren.
SPIEGEL: Ist das eher der Anfang oder schon das Ende des Widerstandes?
Nandar: Über so etwas nachzudenken nimmt mir die Kraft. In meinen Podcasts und Texten rufe ich Leute, gerade Frauen in Myanmar dazu auf, mehr für ihre Rechte einzustehen, laut auszusprechen, was sie wollen. Das war langenicht so wichtig wie jetzt. Ich schaue mir den Coup aber auch unter einem feministischen Aspekt an: Das Militär stellt sich immer als »Vater dieses Landes« dar. Ich glaube, die Tatsache, dass ausgerechnet eine Frau Präsidentin war, hat die Militärs enorm gestört. Und im Grunde ergeht es Aung San Suu Kyi wie so vielen Frauen in Myanmar: Sie wurde mundtot gemacht. Einen männlichen Präsidenten hätte man sicher auch abgesetzt, aber ich denke, man hätte dies irgendwie würdevoller getan. Man hätte ihm vielleicht nicht die Stimme genommen.
»Ich kenne Frauen, die acht Kinder zur Welt gebracht haben, aber nichts über ihren Körper wissen.«
SPIEGEL: Wir hatten uns ursprünglich verabredet, um über Ihre Arbeit mit und für Frauen in Myanmar zu sprechen. Wie ist deren Lage?
Nandar: Ich bin in dem kleinen Dorf Mansam, in Shan im Nordosten des Landes aufgewachsen. Auf dem Land sind die Traditionen sehr mächtig, ich habe das auch zu spüren bekommen. Frauen haben dort viel weniger Rechte, ihnen wird gesagt, das Wichtigste sei, eine Jungfrau zu sein. Ich bin mit 14 Jahren ins Ausland und dort zur Schule gegangen. Erst da habe ich begriffen, dass ich dieselben Rechte wie Männer habe. Heute, glaube ich, müssen Mädchen nicht mehr raus aus Myanmar, um das zu begreifen. Sie wissen das. Sie haben Internet. Aber im Alltag stoßen sie dennoch ständig an Grenzen.
SPIEGEL: Inwiefern?
Nandar: Schauen wir in die Familien. Sätze wie »Aber du bist ein Mädchen, das gehört sich nicht« hören junge Frauen leider sehr oft. Mädchen sollen keine großen Träume haben. Sie sollen sich nicht nach einer guten Schule oder Uni sehnen, nach einem Job, der sie anspricht. Mädchen – und Jungen – werden diese Barrieren im Kopf anerzogen, sie wachsen damit auf. Ich kenne viele Frauen, die in einer missbräuchlichen Beziehung leben, täglich Gewalt erfahren. Aber sie trennen sich nicht. Das liegt auch an der Corona-Zeit. Viele Frauen haben kein eigenständiges Einkommen, in der Krise ihre Jobs verloren. Sie fragen: Wie soll ich allein überleben? Finanzielle Sicherheit zum Preis maximaler körperlicher Unsicherheit.
Nach dem Militärputsch fordern Frauen und Männer inYangon, Myanmar, die Freilassung der Präsidentin Aung San Suu Kyi
Foto: Getty Images
SPIEGEL: Wie wirkt sich die Pandemie noch aus?
Nandar: Frauen und Mädchen sind noch mehr zu Hause als sonst, sie sind noch überwachter. Sie werden noch mehr für die Care-Arbeit eingesetzt und ausgebeutet. Ich habe mit Studentinnen und Schülerinnen Kontakt, deren Schulen und Unis wegen Corona geschlossen sind. Sie sitzen nun zu Hause, haben Eltern, die das Recht ihrer Kinder auf Privatheit nicht akzeptieren. Die stören, in die Zimmer eindringen, die Mädchen bevormunden. Solche Dinge. Söhne werden in Ruhe gelassen. Die gute Nachricht ist: In Myanmars Städten gibt es immer mehr öffentliche Anlaufstellen, wo sich Frauen, und auch Männer, beraten lassen, Hilfe finden und über ihre Probleme sprechen können.
SPIEGEL: Sie beantworten in ihren Podcasts Fragen, die sich viele Mädchen in Myanmar nicht zu stellen trauen.
Nandar: Ich habe gemerkt, dass Freunde und Freundinnen, oder auch Leute, mit denen ich eine Beziehung führte, sehr wenig über Sexualität wussten. Was beim Sex passiert. Dass Sex einvernehmlich geschehen muss. Solche grundlegenden Dinge. Unser Bildungssystem klammert Sexualkunde aus, wir lernen an der Schule nichts über Menstruation, Verhütung oder übertragbare Krankheiten. Väter und Mütter beantworten keine Fragen. Ich kenne Frauen, die acht Kinder zur Welt gebracht haben, aber nichts über ihren Körper wissen. Als würde er gar nicht zu ihnen gehören. Diesen Frauen sage ich: Lernt euren Körper kennen. Holt ihn euch zurück. Er gehört nur euch.
Nandar: »Holt euch euren Körper zurück!«
Foto: Feminist Talks with Nandar
SPIEGEL: Sind auch Männer unter Ihren Zuhörern?
Nandar: Ich spreche vor allem Frauen an. Ihnen möchte ich klarmachen, warum es so wichtig ist, Bescheid zu wissen: über ihre Brüste, die Vagina, den Uterus, alle Teile ihres Körpers, die essenziell sind für die Gesundheit und für Sex. Aber ich hoffe, dass auch Männer zuhören. Denn auch Jungs haben niemanden, mit dem sie ernsthaft über Sexualität sprechen können. Die Folge: Die Männer denken, sie können mit dem weiblichen Körper tun, was sie wollen. Frauen denken, was auch immer Männer ihnen antun, ist okay. So werden wir in dieser patriarchalen Gesellschaft erzogen. Ich glaube, je mehr man über den Körper seines Gegenübers weiß, desto mehr Respekt hat man vor ihm.
SPIEGEL: Wie sind die Reaktionen auf Ihre Arbeit?
Nandar: Ich bekomme viele Hasskommentare in meine Inbox, einmal wurde ein Foto von mir auf eine Porno-Webseite hochgeladen. Aber ganz ehrlich, und das gilt für Frauenrechte genauso wie für die aktuelle politische Krise in Myanmar: Wir können die Dinge nur ändern, wenn wir normalen Leute laut sind. Dann kann eine Diktatur zu einer Demokratie werden. Und ein patriarchales zu einem gleichberechtigten System.
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