Schottlands Abspaltungsbestrebung
»Die Regierung spielt mit dem Feuer«
Premier Johnson hofft nach dem Brexit auf ein global erfolgreiches Großbritannien – doch die Nation könnte zerfallen. Die Schotten arbeiten am nächsten Abspaltungsversuch. Andere könnten folgen.
Ein Brexit-Gegner hält in Edinburgh eine Fantasieflagge hoch, die die schottische mit der EU-Fahne vermischt
Foto: ANDY BUCHANAN / AFP
Schottland bereitet nach dem Brexit ein mögliches zweites Unabhängigkeitsreferendum – und eine Wiederangliederung an die EU – vor. Die Europäische Union sei »der größte Binnenmarkt der Welt, und wir wollen dabei sein«, sagte Angus Robertson, früherer Vize der Schottischen Nationalpartei (SNP), der Nachrichtenagentur dpa. Ziel sei demnach eine neue Volksbefragung innerhalb der nächsten Legislaturperiode.
Robertson war jahrelang SNP-Fraktionschef im britischen Parlament und leitet nun einen Pro-Unabhängigkeits-Thinktank. Er warnte den britischen Premier Boris Johnson davor, die Abstimmung in Schottland zu verhindern. Dessen Haltung sei antidemokratisch, sagte Robertson: »Die Regierung spielt mit dem Feuer, wenn sie versucht, die Demokratie in Schottland zu blockieren.« Wenn London »weiterhin mauert, wird die Mehrheit für die Unabhängigkeit eher weiter wachsen.«
Nationalpartei hofft auf absolute Mehrheit
In einer Volksabstimmung 2014 hatte sich eine knappe Mehrheit in Schottland noch gegen die Unabhängigkeit ausgesprochen. Johnson lehnt ein neues Referendum ab und betont, die Frage sei für diese Generation geklärt. Doch Befürworter weisen darauf hin, die Bedingungen hätten sich durch den EU-Austritt verändert. Am 6. Mai soll Schottland ein neues Parlament wählen, die regierende Schottische Nationalpartei (SNP) von Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon hofft auf eine absolute Mehrheit.
Beim Brexit-Referendum 2016 hatte eine klare Mehrheit der Schotten gegen den Austritt aus der EU gestimmt. »Jetzt kann nur die Unabhängigkeit die Möglichkeit zur EU-Mitgliedschaft schaffen, die von der überwältigenden Mehrheit der Schotten gewünscht wird«, betont Fabian Zuleeg, Chef des European Policy Centre in Brüssel. Kirsty Hughes, Direktorin des Thinktanks Scottish Council on European Relations in Edinburgh, weist darauf hin, dass die Befürworter die Demografie auf ihrer Seite hätten. »Bei den Menschen unter 35 Jahren sind 70 oder 80 Prozent für die Unabhängigkeit und für die EU«, sagte sie der dpa.
Coronakrise sorgt für weitere Spaltung
Neben dem Brexit lässt vor allem die in London schlecht geführte Coronakrise Befürworter der schottischen Unabhängigkeit mehr denn je auf die Loslösung von Großbritannien hoffen. Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon werde im Umgang mit der Pandemie als viel kompetenter eingestuft als der britische Ministerpräsident Boris Johnson, sagte Politikprofessor John Curtice von der Universität Strathclyde in Glasgow der dpa. »Der Premierminister ist bekannt dafür, dass er sich nicht so sehr um die Details kümmert. Sturgeon hingegen klingt wie die oberste Amtsärztin, wie eine Topwissenschaftlerin.«
Seit Monaten spricht sich in Umfragen eine Mehrheit der Schotten für die Unabhängigkeit aus. »Es besteht kein Zweifel, dass Boris Johnson unwillentlich zum besten Rekrutierer der nationalen Bewegung in Schottland geworden ist«, sagte Curtice. Experten sehen durchaus Chancen, dass ein selbstständiges Schottland mit seinen etwa 5,5 Millionen Einwohnern wirtschaftlich überleben kann, verweisen auf Öl aus der Nordsee und reiche Fischbestände sowie den Tourismus.
Eine Unabhängigkeit des nördlichen Landesteils hätte schwere Folgen. Das Vereinigte Königreich könne auseinanderbrechen, sagte der Verfassungsrechtler Robert Hazell vom University College London der dpa. »Es gibt bereits starke Signale einer steigenden Unterstützung für ein Referendum in Nordirland über die Wiedervereinigung mit Irland.« Und auch in Wales erhielten Forderungen nach einer Unabhängigkeit Zulauf. »Johnsons Versprechen eines ›Global Britain‹, stark und frei wegen des Brexits, würde sich als falsch erweisen«, sagte Hazell.