Abschreckung und Dialog Das Russland-Paradox

Polnische Fregatte im Hafen von Gdynia, Juni 2016
Foto: Adam Warzawa/ dpaDas aggressiv-bedrohliche Handeln Russlands ist eher Ausdruck der Schwäche des Landes denn seiner Stärke, aber wir sollten es trotzdem als wichtiges Land respektieren und behandeln. Russland ist gegenwärtig nicht besonders an Dialog interessiert, aber wir sollten es mit Dialogangeboten überhäufen. Russland setzt auf Unberechenbarkeit, aber wir sollten dennoch beharrlich auf Stabilisierung, Transparenz und Berechenbarkeit unserer Beziehungen hinarbeiten. Russland hält sich nicht an Völkerrecht und Verträge, aber wir sollten dennoch und demonstrativ vertragstreu sein. Russland tritt als Widersacher des Westens auf, aber wir sollten dennoch unablässig nach gemeinsamen Interessen und Möglichkeiten zur Zusammenarbeit suchen.

Wolfgang Ischinger war Staatssekretär des Auswärtigen Amts und ist seit 2008 Vorsitzender der Münchner Sicherheitskonferenz. Er lehrt an der "Hertie School of Governance" in Berlin.
All dies klingt paradox und mag nicht allen sofort einleuchten. Richtig ist es trotzdem, wenn wir unseren Werten, Interessen und unserer Identität entsprechend handeln wollen. Unsere Stärke ermöglicht es uns, mit Weitsicht und strategischer Geduld zu reagieren und gerade nicht in die Falle einer Eskalationsspirale zu tappen.
Eine solche Herangehensweise berücksichtigt auch die öffentliche Meinung in Europa: Die Reaktionen auf Außenminister Steinmeiers Warnung vor einem "Säbelrasseln" haben verdeutlicht, dass es in unseren Öffentlichkeiten starke Strömungen gibt, die Russland im Recht sehen und die Antwort der Nato für überzogen halten. Russische Reaktionen auf den Nato-Gipfel drohen diese Gräben leider zu vertiefen. Je mehr wir nach den oben skizzierten Grundsätzen handeln und trotz allem versuchen, Russland einzubinden, desto eher können wir hier Verwerfungen verhindern.
Dazu vier Beobachtungen:
- Das Eskalationsrisiko ist unerträglich hoch - und wir müssen mehr dafür tun, es zu verringern.
Die gegenwärtige Krise hat die militärisch gefährlichste Lage in und um Europa seit dem Ende des Kalten Kriegs herbeigeführt. Militärische Muskelspiele - wie zum Beispiel simulierte Angriffe von russischen Kampfflugzeugen auf Schiffe der US-amerikanischen Marine in der Ostsee mit einem Abstand von nur wenigen Metern - tragen ein hohes Risiko von Fehlkalkulationen, menschlichen (Fehl-)Entscheidungen und ungeplanten Eskalationsmaßnahmen in sich.
Bis heute gibt es kein gemeinsames militärisches Krisenreaktionszentrum der Nato und Russlands oder auch nur gemeinsame Absprachen über das Vorgehen im Falle eines militärischen Zwischenfalls. Wer wen wie kontaktieren würde, um in einem solchen Fall eine Eskalation zu verhindern, ist nicht hinreichend geklärt. Je unklarer in einem solchen Krisenmoment aber die Abläufe sind, desto höher ist die Gefahr von katastrophalen Entwicklungen. Ein gemeinsames Krisenzentrum ist überfällig.
- Die westliche "Doppelstrategie" - ein Stärken der westlichen Verteidigungsfähigkeiten einerseits, ein Stärken des Dialogs und der kooperativen Angebote andererseits - gepaart mit strategischer Geduld, bleibt der richtige Grundansatz.
Die aktuellen Nato-Rückversicherungsmaßnahmen sind nicht übermäßig dimensioniert - insbesondere, wenn man sie mit den weit größeren russischen Übungen und Teilmobilisierungen vergleicht. Und die geplante Stationierung von Nato-Truppen in Osteuropa bleibt im Rahmen der Nato-Russland-Grundakte. Die 4000 Soldaten, die insgesamt nach Estland, Lettland, Litauen und Polen geschickt werden sollen, können von niemandem ernsthaft als "Einkreisung" Russlands betrachtet werden. Ihre Präsenz demonstriert Solidarität mit unseren östlichen Bündnispartnern. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.
Wie auch Außenminister Steinmeier festgestellt hat, darf es nicht so sein, dass der erste Teil dieser Doppelstrategie sich durch sichtbare militärische Maßnahmen manifestiert, während Teil zwei sich in wolkiger Zusammenarbeitsrhetorik ohne konkrete Vorschläge erschöpft.
Das tut er glücklicherweise nicht, wenngleich westliche Aktivitäten besser kommuniziert werden könnten: Die Ukrainediplomatie läuft unter Führung Deutschlands und Frankreichs auf Hochtouren. Die Suche nach gemeinsamen west-östlichen wirtschaftlichen Perspektiven bildet ein Kernstück des deutschen OSZE-Vorsitzes. Der Nato-Russland-Rat ist wiederbelebt worden - aber leider hat Russland es abgelehnt, dass der Rat vor dem Nato-Gipfel noch einmal tagt. Der Nato-Generalsekretär erneuert regelmäßig seine Angebote an Russland, das "Wiener Dokument" und andere Rüstungskontrollmechanismen zu erneuern, um Transparenz und Stabilität zu erhöhen. Und zu Syrien und in jüngster Zeit auch zu Libyen gibt es immerhin Versuche, gemeinsam zu Lösungen zu kommen.
Aber wir können noch mehr tun:
Das stärkste Signal andauernder Verbundenheit an die russische Bevölkerung wäre die Aufhebung der Visumspflicht für "normale" Russen. Wenn das für Türken und Ukrainer geht, warum dann nicht auch für Russen? Einer deutschen Initiative wäre in jedem Fall ein gewaltiges Echo in Russland gewiss. Daneben sollten wir Stipendien- und Austauschprogramme für Schüler, Studenten und Wissenschaftler vervielfachen: Je mehr Russen sich bei uns umschauen können, desto dümmlicher wird ihnen die antideutsche und antiwestliche Propaganda in russischen Medien erscheinen.
Eine zweiter Vorschlag: Die Grundlagen der europäischen Sicherheitsordnung - Helsinki! - sind zu bekräftigen und gegebenenfalls zu ergänzen. Deshalb hat die vom OSZE-Vorsitz 2014 geschaffene Gruppe von Weisen (Panel of Eminent Persons) "Back to Diplomacy" empfohlen. Mit dem Anwerfen der "diplomatischen Maschinerie" - nach erfolgreichem Abschluss des Minsk-Prozesses - könnte auch die amerikanisch-russische Diplomatie wieder Fahrt aufnehmen, vor oder nach den US-Wahlen. Das ist deshalb so wichtig, weil eine dauerhafte Überwindung der West-Ost-Krise ohne direkte Gespräche zwischen dem Weißen Haus und dem Kreml kaum realistisch erscheint. Darum geht es Putin doch: auf dieser Ebene gesehen zu werden. Der deutsche OSZE-Vorsitz hat jetzt die Gelegenheit, Perspektiven aufzuzeigen, die am Ende eines langwierigen Prozesses zu einem euro-atlantischen Gipfel der OSZE-Teilnehmerstaaten führen könnten.
Drittens: Um die vorhersehbar negativen Reaktionen in Moskau auf den Warschauer Gipfel zu dämpfen, sollte unbedingt unmittelbar vor und/oder unmittelbar nach dem Gipfel ein hochrangiger Nato-Vertreter nach Moskau fliegen, um umfassende Unterrichtung und Transparenz anzubieten.
- Russland ist militärisch stark - und sonst schwach.
Hinter all diesen Überlegungen steht eine Frage, die für die Reaktion des Westens ganz entscheidend ist: Wie stark ist Russland eigentlich?
Wirtschaftlich ist Russland jedenfalls keine Großmacht. Das Bruttoinlandsprodukt Russlands liegt zwischen dem Italiens und Spaniens. Die russische Wirtschaft ist allein im Jahr 2015 um fast vier Prozent geschrumpft, und die Innovationskraft kann schon lange nicht mehr im globalen Wettbewerb mithalten. Selbst eine gewisse Erholung des Ölpreises würde nur mäßige und vor allem keine nachhaltige Besserung bringen.
Politisch hat Moskau sich an mehreren Fronten gleichzeitig ins Abseits manövriert: Putin hat es geschafft, 40 Millionen eigentlich russophile Ukrainer innerhalb von wenigen Monaten davon zu überzeugen, dass Moskau die größte Gefahr für die Ukraine ist. Schweden und Finnen diskutieren erstmals seit Jahrzehnten die möglichen Vorteile einer Nato-Mitgliedschaft; die Kooperation aus Peking hat keine wirkliche Abhilfe gebracht; und große Teile der sunnitischen Welt werden auf längere Sicht Russland als Gegner definieren.
Abgesehen von seiner Rolle als militärische Nuklearmacht ist Russland nichts anderes als der berühmte "Scheinriese" aus dem Kinderbuch von Michael Ende: aus der Ferne ein bedrohlich wirkender Riese, aus der Nähe kleiner - und mit einer deprimierend schlechten Prognose.
Neben den ökonomisch-technologischen Absturz tritt so eine mit schweren Hypotheken belastete außenpolitische Position Russlands, ohne jeden Ansatz von "soft power". Es ist eine Politik, die ihr Heil fast verzweifelt in der rückwärtsgewandten Selbstbehauptung sucht - obwohl auch Moskau weiß, dass diese Strategie langfristig Scheitern muss. Von wegen Weltmacht.
Geschlossenes, besonnenes Auftreten des Westens und der EU ist das beste Gegenmittel. Nur so lässt sich die Umsetzung von Minsk erreichen, und dann können auch die Sanktionen beendet werden. Die größte Gefahr ist die unserer eigenen Schwäche. Der Brexit etwa ist ein Erfolg für Putin - wichtiger als vieles, was er durch eigenes Handeln erreichen konnte oder könnte.
- Zu einer ernsthaften Auseinandersetzung gehört Selbstkritik - auch und gerade, wenn es Russland selbst daran mangelt.
Zu konzedieren, dass auch wir Fehler machen, kann ausdrücklich nicht heißen, eine russische Sicherheitsdoktrin zu akzeptieren, die den eigenen Nachbarn die freie Bündniswahl untersagt - unter Verletzung der Prinzipien von Helsinki 1975 und Paris 1990. Es gibt aber Punkte, an denen wir offen Selbstkritik üben könnten:
Der zweite Pfeiler der Nato-Politik der Neunziger - die Beziehungen zu Russland - ist vernachlässigt worden. Das Übereinkommen mit Moskau war: zwei gleich wichtige Säulen, die Nato-Erweiterung einerseits, und eine neue Qualität des Nato-Russland-Verhältnisses andererseits. Leider geriet der zweite Teil später zunehmend in Vergessenheit. Und 2008 mussten Merkel und Sarkozy die Notbremse ziehen, als Bush die Nato-Aufnahme der Ukraine und Georgiens forcieren wollte.
Unser Umgang mit den Staaten "dazwischen" - etwa Georgien, Ukraine und Moldau - hat deren Sicherheit nicht gestärkt. 2008 wurde Georgien und Ukraine die Bündnis-Mitgliedschaft versprochen. Stehen wir dazu? Wäre es nicht besser für beide Aspiranten, stattdessen eine Finnland- oder Österreich-Rolle anzustreben? Aber was hieße das für unsere Glaubwürdigkeit, für den hehren Grundsatz der freien Bündniswahl? Wir sind diesen Fragen zu lange ausgewichen.
Und man darf fragen, ob ausgerechnet jetzt der richtige Zeitpunkt ist, das von Russland so massiv kritisierte US-Raketenabwehrsystem in Rumänien in Betrieb zu nehmen.
Vorwürfe einer westlichen Einkreisung und Bedrohung Russlands können dann nicht auf fruchtbaren Boden fallen, wenn wir auch über eigene Versäumnisse offen sprechen, und wenn wir glaubwürdig vermitteln, dass es nicht Nato und EU sind, die einer Rückkehr zu kooperativer Politik entgegenstehen.
Wir brauchen und wir wollen Russland als Partner, wenn sich Russland für den Weg zurück zur europäischen Sicherheitsordnung entscheidet. Bis dahin brauchen wir strategische Geduld. Und das heißt zweierlei: Prinzipientreue, also kein Irrlichtern, und Gelassenheit, also kein Draufsatteln. Das ist kluge Russlandpolitik.