Natoeinsatz in Afghanistan Kanadier werfen Deutschland Treulosigkeit vor

Mit der Entsendung von Tornados will Kanzlerin Merkel die Nato-Verbündeten beschwichtigen, die von der Bundeswehr Kampfeinsätze in Afghanistan fordern. Doch den Kritikern reicht das nicht. Jetzt drohen die Kanadier: Wenn die anderen nicht kämpfen, tun wir es vielleicht bald auch nicht mehr.

Hamburg - Nach den Tornados kehrt Ruhe ein. So ungefähr dürfte die Rechnung der Bundesregierung ausgesehen haben, als sie der Nato vor einiger Zeit anbot, sie könnte doch mit Aufklärungsflugzeugen die alliierten Truppen am Boden unterstützen. Die Zustimmung im Bundestag für den Einsatz ab April gilt als sicher, die Verbündeten nehmen die Offerte dankbar an, und so hoffte man in Berlin, der in den vergangenen Monaten immer wieder mehr oder weniger verklausuliert geäußerte Wunsch, die Deutschen mögen doch endlich "lernen zu töten", würde endlich verstummen.

Doch kaum dass sich Franz Josef Jung (CDU) beim jüngsten informellen Treffen der Nato-Verteidigungsminister im spanischen Sevilla der letzten Truppenforderungen mit dem Hinweis erwehren konnte, man solle nicht "immer mehr über militärische Mittel" sprechen, sondern auch mal über Wiederaufbau und Sicherheit, kommen die nächsten Nadelstiche von jenseits des Atlantik. Hochrangige kanadische Politiker bringen einen Abzug ihrer Truppen ins Spiel, wenn sich nicht binnen eines Jahres endlich Verstärkung in den umkämpften Süden Afghanistans auf den Weg macht.

Die Regierung in Ottawa solle ihre Verbündeten weiterhin dazu drängen, zusätzliche Truppen zur Verfügung zu stellen, um Seite an Seite mit afghanischen Streitkräften zu kämpfen, heißt es in einem 16-seitigen Bericht des Ausschusses für nationale Sicherheit und Verteidigung des kanadischen Senats. Dessen Empfehlung lautet: Kanada sollte öffentlich erklären, dass man gezwungen sei, seinen Einsatz am Hindukusch zu überdenken, wenn die Nato nicht binnen zwölf Monaten ein bedeutend größeres und voll einsatzbereites Kontingent in der Unruheprovinz Kandahar stationiert.

Mit anderen Worten: Wenn andere nicht kämpfen wollen, kämpfen wir vielleicht bald auch nicht mehr. Eine deutliche Warnung, die sich auch gegen Deutschland richtet und die auch die Nato gestern aufschreckte. Sollte Kanada die Soldaten tatsächlich abziehen, so stünde man vor einer "schrecklichen Situation", erklärte Oberbefehlshaber John Craddock im militärischen Hauptquartier des Bündnisses in Belgien. Und unterstützte gleich noch einmal die Forderung der Kanadier. "Wir haben nicht ausreichend Truppen", bekräftigte der US-General. "Das erhöht das Risiko für jeden Nato-Soldaten, der dort ist."

Lackmus-Test für die Nato

Von der insgesamt mehr als 35.000 Mann starken internationalen Truppe in Afghanistan stellt Kanada derzeit rund 2500 Soldaten. Das ist zwar weniger als das deutsche Kontingent, doch während die Bundeswehr das Kommando über den relativ ruhigen Norden führt, sind die Kanadier im Süden immer wieder in blutige Gefechte mit den Taliban verwickelt. Mehr als 40 Soldaten starben dort bisher. Deutsche Soldaten dürfen laut Mandat nur im Notfall im Süden aushelfen.

"Die Nato verhält sich nicht wie ein echtes Bündnis", sagte der Vorsitzende des kanadischen Verteidigungsausschusses, Senator Colin Kenny, im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE. Ohne Deutschland beim Namen zu nennen, kritisierte er die Einsatzbeschränkungen einiger Nato-Länder, die es dem Kommandeur den Befehlshabern der internationalen Schutztruppe (Isaf) unmöglich machten, Truppen innerhalb Afghanistans je nach Bedarf zu verschieben. "Es geht darum, die Lasten gerecht zu verteilen", so Kenny, der zuletzt im Dezember vergangenen Jahres die kanadischen Soldaten in Kandahar besucht hatte.

Der Ausschussbericht, der sich auf Untersuchungen und Gespräche mit Soldaten und Experten in den vergangenen zwei Jahren stützt, wird da noch deutlicher: Wie solle man die afghanischen Streitkräfte trainieren, wenn sich "Nato-Länder wie Deutschland und Frankreich" nicht auf Kämpfe einlassen wollen? "Bei einigen unserer Verbündeten wird viel salutiert, aber wenig marschiert", heißt es weiter.

Für Colin Kenny und seine Ausschusskollegen steht nicht weniger als die Zukunft der Nato auf dem Spiel. "Wir sehen Afghanistan als Lackmus-Test der Nato", sagte der Senator. In den kommenden Monaten müsse sich zeigen, ob die Nato gewillt sei, ihre Mission in Afghanistan langfristig erfolgreich zu gestalten – "zusammen", wie Kenny betonte. "Wenn sich die Nato nicht als treues Bündnis erweist, liegen alle Optionen auf dem Tisch", spielte der Politiker von der Liberal Party auf einen möglichen Rückzug der Kanadier an, deren Mandat eigentlich bis zum Februar 2009 läuft.

Afghanistan am Scheideweg

In der Tat steht Afghanistan vor entscheidenden Monaten. Fünf Jahre nach der Petersberger Konferenz in Bonn, wo ein internationaler Wiederaufbauplan beschlossen wurde, ist das Land von Frieden und Demokratie noch Generationen entfernt. Vor allem Amerikaner, Briten, Kanadier und Niederländer reiben sich in einem blutigen Abnutzungskrieg gegen die Guerillakrieger der Taliban auf.

Das vergangene Jahr brachte die schwersten Gefechte am Hindukusch seit dem Sturz der Taliban 2001. Immer wieder leisteten die Extremisten im Süden und Osten heftige Gegenwehr, eroberten sogar längst von der Nato eingenommenes Gebiet zurück. Die Taliban ziehen sich regelmäßig ins pakistanische Hinterland zurück - wo die Nato-Truppen sie nicht verfolgen dürfen.

Die Stärke des Gegners überraschte das nach eigenem Verständnis mächtigste Militärbündnis der Welt. Beobachter sprechen von der härtesten Bodenschlacht in der Nato-Geschichte. Für das Frühjahr wird mit einer erneuten Zuspitzung der Lage gerechnet. Wenn der Schnee in den Bergen schmilzt, wollen die Taliban zur Offensive blasen, für die nach Angaben der islamistischen Kämpfer 2000 Selbstmordattentäter bereitstehen. Und auch die Nato ihrerseits hat eine praktisch vorentscheidende Schlacht ausgerufen.

Bisher hat nur Großbritannien vor wenigen Tagen eine deutliche Aufstockung seines Isaf-Kontingents bekannt gegeben. 800 Soldaten sollen die eigenen 5000 Leute in der umkämpften Provinz Helmand verstärken. Norwegen kündigte gestern die Entsendung von 150 zusätzlichen Soldaten an. Die bereits vor Monaten zugesagte Verstärkung der polnischen Truppen lässt noch auf sich warten.

Und die Kanadier? Eine offizielle Reaktion der Regierung in Ottawa auf den Senatsreport steht noch aus. Premierminister Stephen Harper hat nach Angaben der Tageszeitung "Globe and Mail" jedoch für die nahe Zukunft eine wegweisende Erklärung über die künftige Ausrichtung der kanadischen Rolle in Afghanistan angekündigt.

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