Neokonservative und der Irak "Ja, der Krieg war ein Fehler"
SPIEGEL ONLINE: Herr Kaplan, eine Pentagoneinrichtung hat den Irak-Krieg kürzlich als "riesiges Debakel" beschrieben. Nach den neuesten Zahlen gibt es immer noch 500 Angriffe Aufständischer pro Woche. Trotzdem sind Sie überzeugt, dass es eine "Lernkurve" der US-Armee im Irak gibt. Was genau hat sie denn gelernt?
Kaplan: Jeder Angriff ist einer zuviel. Aber bis vor kurzem waren es noch 500 pro Tag. Rein empirisch hat sich die Lage mittlerweile deutlich verbessert, und zwar egal, was Sie messen: getötete irakische Zivilisten, angegriffene US-Soldaten oder gefangengenommene Aufständische - überall zeigen die Zahlen in die richtige Richtung. Natürlich, die politische Situation im Irak ist nach wie vor desaströs. Was ich beschreibe, sind deshalb auch keine hinreichenden Verbesserungen für wahren Fortschritt - aber eben notwendige. Sie waren nur möglich, weil die US-Armee ihr Einsatzkonzept umgekrempelt hat.
SPIEGEL ONLINE: Wie denn?
Kaplan: Im Grunde sind wir von einer Taktik wie aus dem Zweiten Weltkrieg mit großen Razzien, viel Feuerkraft und einer Entfremdung von der lokalen Bevölkerung umgeschwenkt zu dem Versuch, die Iraker zu schützen und diplomatische Beziehungen zu den Stämmen aufzubauen. Hinzu kommt, dass al-Qaida ihr Blatt überreizt hat. Heute ist die US-Armee den Irakern viel näher, das hat unter anderem zu einer deutlichen Steigerung von Hinweisen auf Aufständische geführt. Diese neue Strategie wurde von General David Petraeus eingeführt. Allerdings wird man ihr wohl nicht die nötige Zeit einräumen, die sie bräuchte, um sich zu entfalten - denn egal, wie fruchtbar sie ist, die amerikanische Öffentlichkeit ist kriegsmüde.
SPIEGEL ONLINE: Hat die Aufstockung der US-Truppen Anfang 2007 auch Anteil an den Fortschritten, die Sie beschreiben?
Kaplan: Das ist in Washington heiß umstritten - denn wer den "Surge" mit Fortschritten in Verbindung bringt, würde ja zugeben, dass George W. Bush etwas richtig gemacht hat. Ich halte es für unmöglich, die Faktoren auseinanderzuhalten. Dass viele Stämme die Seiten gewechselt haben, dass Muktada al-Sadr ruhig geblieben ist, die neue US-Strategie - das alles hat geholfen. Die 30.000 neuen Soldaten können den Fortschritt am wenigsten erklären. Das neue Verhalten der Stämme halte ich für am wichtigsten.
SPIEGEL ONLINE: General Petraeus hat einmal erklärt, Aufstände dauerten in der Regel zehn bis zwölf Jahre. Wie nachhaltig sind die Erfolge, die Sie ausmachen?
Kaplan: Das hängt von der US-Präsenz im Irak ab. Wir haben wahrscheinlich den schlimmsten Teil des sunnitischen Aufstands hinter uns. Aber zögen die USA in den nächsten zwei Jahren ab, stünden wir bald wieder am Anfang. Das Land würde in den Bürgerkrieg abrutschen. Die Iraker trauen einander nicht, und die Parteien und Ministerien orientieren sich an Ethnie und Religion, aber nicht an ihren Aufgaben.
SPIEGEL ONLINE: 2003 veröffentlichten Sie ein einflussreiches Buch, in dem sie den Feldzug gegen den Irak begründen halfen - eine Publikation, die als eindeutig neokonservativ gewertet wurde. Danach haben Sie allerdings den Elfenbeinturm der Wissenschaft verlassen und den Irak selbst besucht. Was waren ihre Motive?
Kaplan: Ich möchte nicht pompös klingen, aber wenn man Argumente vorbringt, die Konsequenzen haben, ist es nur angemessen, sich diese auch anzusehen. Als jemand, der diesen Krieg mitbegründet hat, wollte ich also die Produkte meiner Argumente mit eigenen Augen sehen. Ich fühlte ein Bedürfnis, an der Geschichte dranzubleiben. Die Geschichte änderte sich freilich: Die Frage war nicht mehr, ob wir in den Krieg ziehen, sondern der Krieg selbst. So wurde ich Kriegsbeobachter - und hatte in der Folge einige einschneidende Erlebnisse, die mein Denken veränderten. Vor dem Krieg war der Irak eine Idee. Wenn man das Land aber gesehen hat, wird man vorsichtiger damit, seine Idee auf den Tisch zu legen.
SPIEGEL ONLINE: In Ihrem Buch schrieben Sie, Saddam Hussein zu stürzen und eine demokratische Regierung in Bagdad zu installieren, sollte der Supermacht USA nicht allzu schwer fallen. Heute erscheint die Demokratisierung des Irak schwieriger denn je. Wieso ist der Irak nie zu dem Ausstellungsstück geworden, dass die Neokonservativen für den gesamten Nahen Osten schaffen wollten?
Kaplan: Das ist die 64.000-Dollar-Frage! Ich glaube, es ist falsch zu sagen, dass man den Irak nicht demokratisieren kann, weil es Iraker oder weil es Araber sind. Das würde bedeuten, dass man eine Art von Kulturrelativismus in die Gleichung einbringen muss, den ich für falsch halte. Jeder will frei sein. Dennoch stimmt es ja: Im Irak sind wir gegen eine Wand gelaufen. Ein Lager in den USA glaubt, es liegt daran, wie wir versucht haben, unsere Ideen umzusetzen. Eine andere Schule, die aus liberalen Irakern besteht, meint: Nein, ganz gleich, was ihr getan hättet, es wäre gescheitert - denn wegen unserer Geschichte kann Demokratie hier noch nicht funktionieren. Persönlich glaube ich, es lag an beiden Seiten. Diese Erfahrung war natürlich ein Rückschlag für alle, die an den Idealismus in der US-Außenpolitik glauben. Ich glaube, es ist auch ein Rückschlag für die Bereitschaft westlicher Staaten, aus humanitären Gründen Krieg zu führen. Nehmen Sie Darfur: Wegen des Iraks ist niemand bereit, dort zu intervenieren. Unterm Strich waren die Auswirkungen des Irakkrieges gewaltig - und überwältigend negativ. Ich sehe nichts Gutes, das aus diesem Krieg hervorging.
Warum Hillary Clinton und Barack Obama Neocons sind
SPIEGEL ONLINE: Sie kennen das Bonmot, demzufolge ein Neokonservativer ein Liberaler ist, der Kontakt mit der Realität hatte. Wie nennt man denn einen Neokonservativen, der - wie Sie - der Wirklichkeit ins Auge sehen musste?
Kaplan: Das Präfix "neo" sollte stets nur anzeigen, dass jemand noch an bestimmte Elemente des Liberalismus glaubt - also an den Idealismus in der Außenpolitik oder eine feste Rolle für den Staat in der Innenpolitik. Heute bin ich weniger "neo" und mehr "konservativ". Das heißt, dass ich weniger optimistisch bin, was die Fähigkeiten der Menschen angeht, die Zustände zu verbessern. Ich glaube mehr als zuvor an eine Welt wie die von Hobbes beschriebene - und daran, dass das nicht zu ändern ist.
SPIEGEL ONLINE: Aber wäre es nicht auch eine mögliche Lehre, dass Kriege nicht der richtige Weg sind, Demokratie zu verbreiten?
Kaplan: Ja. Aber die Demokratisierung des Irak war nie der Hauptgrund für den Krieg - auch wenn die Rhetorik so klang. Wir zogen in den Krieg, weil nach 9/11 die Hemmschwelle niedriger war, endlich das, was wir für eine von Saddam ausgehende Gefahr hielten, auszuschalten. Im Übrigen glaube ich, dass auch der Umkehrschluss falsch ist - dass man Demokratisierung dem Markt überlassen sollte oder dass Handel mit China dieses Land liberaler macht. Ich glaube nach wie vor, dass es Druck braucht. Und der kann von außen kommen. Aber es muss kein militärischer Druck sein.
SPIEGEL ONLINE: Also, fürs Protokoll: Der Irak-Krieg war ein Fehler?
Kaplan: Ja. Mit dem Wissen, das wir heute haben, auf jeden Fall. Ich weiß, in einigen Zirkeln gilt diese Aussage als politisches Gift, aber der Respekt vor der Realität gebietet sie. Allerdings ist die Frage, ob wir den Irak jetzt verlassen sollten, davon unabhängig. Da sage ich ebenso eindeutig: Wir haben dieses Land auf den Kopf gestellt. Jetzt haben wir die Verpflichtung, es wieder in Ordnung zu bringen - egal, wie lange es dauert.
SPIEGEL ONLINE: Der Irak-Krieg galt als die große Chance für die Neokonservativen, die Richtigkeit ihrer Thesen zu beweisen. Sind sie jetzt eine historische Fußnote?
Kaplan: So einfach ist es nicht. Falls John McCain die US-Präsidentschaftswahl gewinnt, würde die Schule schnell rehabilitiert sein. Seine Berater sind genau die Leute, über die wir reden. Sein Sieg würde bedeuten, dass die Wähler eine solche Außenpolitik stillschweigend gutheißen. Aber auch Barack Obama oder Hillary Clinton können bestimmten Elementen einer Politik nicht entfliehen, die man heute als neokonservativ bezeichnet. Neokonservativ bedeutet eigentlich nur, Macht und Idealismus in der Außenpolitik zu vereinen. Es kommt nur darauf an, wie sehr man das eine zu Ungunsten des anderen betont. So gesehen, ist nicht einmal der Unterschied zwischen Bill Clinton und George W. Bush besonders groß. Was man heute Neokonservativismus nennt, ist eben in gewisser Weise besonders amerikanisch. Anders gesagt: Der Irak-Krieg war ein Rückschlag. Aber man sollte ihn nicht überbewerten. Das wäre, als hätte man nach dem Vietnamkrieg gesagt: Der Antikommunismus ist gescheitert, wir kämpfen den Kalten Krieg nicht weiter.
Das Interview führte Yassin Musharbash.