Nervenkrieg in Moskauer Theater Sieben Deutsche in der Gewalt der Attentäter

Unter den immer noch mindestens 500 Geiseln in der Gewalt tschetschenischer Terroristen sind offenbar mehr Deutsche als bislang bekannt. Sie und die übrigen Festgehaltenen aus westlichen Ländern sollen das Moskauer Theater bald verlassen können. Unterhändler haben inzwischen Verhandlungen mit den todesbereiten Rebellen, Smertniki genannt, aufgenommen.

Moskau - Mehr als zwölf Stunden nach Beginn der Geiselnahme scheint die Lage am Donnerstagvormittag relativ ruhig zu sein. Die Eingeschlossenen wurden mit Wasser und Lebensmitteln versorgt. Ein Vertreter des Roten Kreuzes ist inzwischen vor der Konzerthalle eingetroffen, um Verhandlungen über die Freilassung der Geiseln zu führen. Die Rebellen hatten zuvor um eine Vermittlung durch internationale Hilfsorganisationen gebeten. Inzwischen blockieren Schützenpanzer alle Straßen rund um das besetzte Theater. Damit soll offenbar ein Ausbruch der Terroristen verhindert werden.

Wie der österreichische Botschafter Franz Cede am Donnerstagmorgen sagte, sollen die westlichen Geiseln ihren jeweiligen diplomatischen Vertretern übergeben werden. Die Diplomaten seien gebeten worden, vor Ort zu bleiben. Cede sagte, unter den Geiseln befänden sich Australier, Briten, US-Bürger und Deutsche. Möglicherweise sind unter den Geiseln mehr Deutsche als die bisher bekannten drei. Eine russische Geisel gab der Agentur Interfax detaillierte Angaben zur Nationalität der festgehaltenen Musical-Besucher an. Demnach befinden sich unter den Geiseln in der russischen Hauptstadt sieben Deutsche, vier US-Bürger, vier Kanadier, zwei Schweizer, zwei Österreicher, zwei Jugoslawen, drei Franzosen, zwei Dänen, ein Bulgare und einige Dutzend Bürger aus ehemaligen Sowjetrepubliken.

Die tschetschenischen Rebellen haben mit ihrer spektakulären Geiselnahme den Krieg aus ihrer Kaukasus-Republik plötzlich in die russische Hauptstadt getragen. Sie stürmten das Theater gestern Abend um 21.00 Uhr Moskauer Zeit und fordern die Beendigung des Tschetschenienkriegs. Sie drohen mit der Erschießung ihrer Geiseln und der Sprengung des Theaters, sollten russische Sicherheitskräfte eine Stürmung des Gebäudes versuchen.

Die Geiselnehmer haben der russischen Führung eine siebentägige Frist zur Erfüllung ihrer Forderungen gesetzt. Innerhalb dieser Zeit müsse die Frage des Abzugs der russischen Streitkräfte aus der abtrünnigen Kaukasus-Republik Tschetschenien gelöst werden, oder das Gebäude werde gesprengt. Die Forderung wurde auf der Internet-Seite der tschetschenischen Rebellen veröffentlicht. Kurz zuvor waren Schüsse und ein lauter Knall aus Richtung des Gebäudes zu hören, ohne dass es zunächst eine Erklärung dafür gab. Nach Berichten deutscher Journalisten in Moskau erschossen die Geiselnehmer einen russischen Milizionär und eine junge Frau, die sie für eine Geheimdienstagentin hielten.

Unter den Geiseln sind auch mindestens drei Deutsche, wie ein Sprecher des Auswärtigen Amtes bestätigte. Der Leiter einer deutsch-schweizerischen Firma sagte der Nachrichtenagentur dpa in einem Telefongespräch, neben seiner 18-jährigen Tochter und einer gleichaltrigen Nichte aus Sibirien sei auch ein aus Deutschland angereister Mitarbeiter seiner Firma unter den Geiseln. "Ich habe gelegentlichen telefonischen Kontakt", sagte der Vater, der namentlich nicht genannt werden wollte. Auch drei Briten sollen in dem Theater sein.

Granaten und Sprengstoffgürtel

Die Geiselnehmer sagten einem tschetschenischen Abgeordneten des russischen Parlaments, Aslanbek Aslachanow, der als Unterhändler fungierte, sie wollen den Rückzug der russischen Truppen aus Tschetschenien und einen Waffenstillstand in dem seit drei Jahren andauernden Krieg erreichen. Dies berichtete der Abgeordnete Juli Rybakow. Er sagte, die Geiselnehmer hätten automatische Waffen, Granaten und Gürtel mit Sprengstoff, Minen und Benzinkanister.

Mehrere Geiseln baten in Anrufen über ihr Mobiltelefon bei russischen Fernsehsendern und Nachrichtenagenturen, die Sicherheitskräfte sollten auf Gewalt verzichten. "Hier sind Frauen, Kinder und Ausländer", sagte ein Anruferin, Maria Schkolnikowa. "Wir wollen nicht, dass das Gebäude gestürmt wird." Die Geiselnehmer, die Familienmitglieder in dem Krieg verloren hätten, seien sehr entschlossen. "Wir verurteilen, was in Tschetschenien passiert", sagte Schkolnikowa. Bei vielen der Anrufer gingen am Donnerstagmorgen die Batterien der Handys zur Neige.

Der Moskauer Polizeisprecher Walerij Gribakin sagte, mehr als hundert Frauen, darunter auch zwei Schwangere, und Kinder seien kurz nach der Stürmung des Theaters freigelassen worden. Am Vormittag durfte ein kleiner Junge das Theater verlassen, der einen Asthma-Anfall erlitten hatte. "Die Terroristen verlangen eines - das Ende des Krieges in Tschetschenien", sagte Gribakin.

Todesbereite Kämpfer

Medienberichten zufolge fuhr das tschetschenische Kommando mit Jeeps zu Beginn des zweiten Akts vor dem Theater vor. Als Polizei und Sicherheitskräfte das Gebäude umstellten, kam es zu einem Schusswechsel, eine Handgranate wurde geworfen. Laut einer tschetschenischen Web-Site ist der Anführer der Gruppe Mowsar Barajew, ein Neffe des im vergangenen Jahr getöteten Rebellenführers Arbi Barajew. Es handele sich um "Smertniki", todesbereite Kämpfer.

Eine Frau, die aus dem Theater fliehen konnte, sagte dem Fernsehsender NTW, in Kampfanzüge gekleidete Männer hätten die Bühne gestürmt, in die Luft geschossen und gerufen: "Versteht ihr nicht, was hier vor sich geht? Wir sind Tschetschenen. Wir verheimlichen das nicht." Bei den Frauen unter den Geiselnehmern soll es sich um Witwen tschetschenischer Kämpfer handeln.

"Plan Gewitter" in Kraft

Die Nachrichtenagentur ITAR-TASS meldete unter Berufung auf einen Zuschauer, der die Polizei angerufen habe, dass die Bewaffneten im Inneren des Gebäudes damit begonnen hätten, Minen zu legen. Polizisten und Angehörige der Alpha-Spezialeinheit begaben sich sofort nach dem Alarm zu dem Theater, das in einem Arbeiterviertel im Südosten Moskaus steht. Das Innenministerium setzte den "Plan Gewitter" in Kraft, der allen Mitgliedern der Sicherheitskräfte befiehlt, sich sofort bei ihren Einheiten zu melden.

Das Musical "Nordost" , das in dem Theater aufgeführt wurde, ist eine der populärsten Produktionen der letzten Jahre in Russland. Es basiert auf Wenjamin Kawerins romantischem Roman "Zwei Kapitäne" und schildert die Geschichte und das Schicksal zweier Studenten zur Zeit der Sowjetunion. Nach Angaben der Produktion haben bislang mehr als 350.000 Menschen das Musical besucht.

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