Neue Sarkawi-Aufnahmen Vier-Stunden-Predigt gegen die Schiiten
Berlin - "Das Schiitentum ist etwas vollständig anderes als der Islam": Dieser Satz, der nach ungefähr zehn Minuten fällt, ist die Essenz dessen, was Abu Musab al-Sarkawi seinen Sympathisanten heute mitteilte. Insgesamt veröffentlichte er gut vier Stunden Tonmaterial, das SPIEGEL ONLINE vorliegt. Der "Schlächter von Bagdad" gibt sich darin ganz als Gelehrter: Statt mit Schaum vor dem Mund predigt er neuerdings in gesetzten Worten.
Schon Anfang der Woche wurde das baldige Erscheinen der "Vorlesungsserie" des irakischen al-Qaida-Chefs auf einschlägigen dschihadistischen Internetseiten angekündigt. Zwar ist die Authentizität der Aufnahmen nicht gesichert. Aber es spricht alles für ihre Echtheit: Die Stimme klingt identisch und der Inhalt stimmt ebenso wie der Veröffentlichungsort und -modus. Zu Beginn der Bänder heißt es jeweils ausdrücklich, dass der nun folgende Inhalt von der Medienabteilung des "Beratergremiums der Mudschahidin" präsentiert werde - jenem "Terrordachverband", den Sarkawi vor einigen Monaten gründete -, und die Stimme diejenige Sarkawis sei. Deutsche Sicherheitsbehörden sagten SPIEGEL ONLINE zudem, ihnen seien zumindest Teile der Aufnahmen bereits bekannt; sie halten sie für echt und glauben, dass sie zwei bis drei Monate alt sind.
Die Schiiten, wettert Sarkawi auf dem ersten Band, seien Ungläubige: Sie veränderten den Koran und kompromittierten den Monotheismus des Islams, weil sie ihren schiitischen Imamen einen zu hohen religiösen Status beimessen würden. In der zweiten Vorlesung reiht der gebürtige Jordanier historische Ereignisse aneinander, in denen schiitische Heerführer Sunniten angegriffen oder verraten hätten. Und so geht es immer weiter: Vier Stunden lang versucht der Terrorist mit theologischen und geschichtlichen Argumenten, die Schiiten zu Ungläubigen abzustempeln. Mehrfach ruft er ausdrücklich dazu auf, sie zu bekämpfen. Die "nationale Einheit" des Irak sei kein Argument, es gehe um den Glauben.
Ausflüge in die Historie
Die "Vorlesungen" fügen sich also inhaltlich in den Kurs, den Sarkawi seit Beginn seiner Kampagne im Irak eingeschlagen hat: Um jeden Preis will er einen Bürgerkrieg in dem geschundenen Land anzetteln. Sarkawi hofft, dass er inmitten von blutigem Chaos ungestörter operieren kann - um dann auch wieder vermehrt in den Nachbarländern des Irak zuzuschlagen. Das hat er in der Vergangenheit mehrmals ausdrücklich bekräftigt, zum Beispiel in einem Brief an die Qaida-Führung. In seiner letzten Rede, die vor wenigen Wochen erschien, hatte er gesagt: "Wir kämpfen im Irak, mit Jerusalem im Blick". Es ging Sarkawi nie nur um den Irak. Die antischiitische Propaganda ist deshalb keine Überraschung; freilich kann sie trotzdem zu einer Ausweitung entsprechender Anschläge im Irak durch seine Anhänger führen. Es ist immer brisant, wenn Sarkawi sich zu Wort meldet, weil seine Kämpfer sich dadurch inspiriert fühlen.
Interessanter aber ist ein ganz anderer Aspekt des heute publizierten Materials, der weniger den Inhalt, als vielmehr die Form betrifft. Denn Sarkawi präsentiert sich als Gelehrter, der in Geschichte und vor allem Theologie bewandert ist. Schon in seinen letzten Verlautbarungen war aufgefallen, dass er offensichtlich versucht, sein Image des "Schlächters von Bagdad" loszuwerden. In seiner letzten Videobotschaft hatte er zwar demonstrativ sein Maschinengewehr geschwungen, aber eben auch ganz ruhig und aufmerksam im Kreise seine Feldkommandeure gesessen und zugehört. Seine damalige Rede war auffallend ruhig, früher hat der Jordanier fast nur geschrien.
Alter Kurs, neuer Stil
Die Imagekampagne läuft bereits seit einiger Zeit. Sie ist eine Reaktion auf Vorwürfe sowohl der Qaida-Führung als auch ehemaliger Weggefährten. Sarkawi sei kein guter Schüler, hatte im letzten Jahr sein ehemaliger Mentor, der Jordanier Issam al-Barkawi alias al-Maqdisi über ihn gesagt. In einem von den USA abgefangenen Brief, dessen Echtheit ungeklärt ist und von Sarkawi bestritten wird, hatte Aiman al-Sawahiri dem Irak-Statthalter vorgeworfen, zu brutal gegen Zivilisten vorzugehen. Al-Qaidas Nummer Zwei warnte sogar, er gefährde die Dschihad-Bewegung, auch durch seine nicht vermittelbaren Angriffe auf die Schiiten. Ob das wirklich sein müsse, hatte Sawahiri gefragt.
Abu Musab al-Sarkawis Verhältnis zu al-Qaida ist von jeher durch eine Mischung aus Kooperation und Konkurrenz geprägt. Zwar hat er sich offiziell Osama Bin Laden unterstellt und ihm die Treue geschworen, auf Kurs bringen lässt er sich aber nicht. Das unterstreichen die heute aufgetauchten Bänder erneut - demonstrieren aber ebenso, dass Sarkawi bestrebt ist, sich selbst nicht nur als Kämpfer, sondern auch als Denker und Gläubigen zu inszenieren. Es behagt ihm nicht, dass man ihn für ungebildet und undiszipliniert hält. Das Ansehen, das Bin Laden genießt, hat damit zu tun, dass er als wahrhaft fromm gilt - so hätte es Sarkawi, dessen Sympathiewerte zuletzt sanken, offenbar auch gerne.