Neuwahl in Istanbul Die türkische Demokratie lebt (noch)

Nach der Annullierung der Istanbul-Wahl stimmen die Bürger heute ein zweites Mal ab. Umfragen sehen Herausforderer Ekrem Imamoglu vorne. Droht Präsident Erdogan eine doppelte Blamage?
Blick auf die Süleymaniye-Moschee in Istanbul

Blick auf die Süleymaniye-Moschee in Istanbul

Foto: AP / Burhan Ozbilici

Wer sich in den vergangenen knapp zwei Jahrzehnten vor einer Wahl in Istanbul aufhielt, konnte Recep Tayyip Erdogan nicht entkommen. Sein Porträt prangte von Häuserwänden und Litfaßsäulen. Seine Stimme dröhnte aus dem Radio.

Vor der Neuwahl in Istanbul an diesem Sonntag jedoch ist es seltsam still um den türkischen Präsidenten. Auf den Wahlkampfplakaten ist fast ausschließlich Binali Yildirim, Spitzenkandidat der Regierungspartei AKP für Istanbul, zu sehen. Erdogan hat seine Auftritte zurückgefahren, lediglich in den vergangenen Tagen mischte er sich wieder verstärkt in die Debatte ein.

Erdogans Vertraute sagen, Demoskopen hätten den Präsidenten darauf hingewiesen, dass seine Dauerpräsenz in den Medien zu der Niederlage bei der regulären Istanbul-Wahl am 31. März beigetragen habe. Seine Gegner hingegen vermuten, Erdogan baue bereits für eine Niederlage vor. Er würde die Verantwortung auf seinen Vasallen Yildirim abwälzen, sollte Istanbul verloren gehen, heißt es.

Binali Yildirim

Binali Yildirim

Foto: AP / Emrah Gurel

Noch nie zuvor hat eine türkische Regierung eine Abstimmung annullieren lassen, nur weil ihr das Ergebnis nicht passte. Erdogan, so sagen türkische Regierungspolitiker, war sich sicher, Neuwahlen zu gewinnen. Diese Gewissheit ist erschüttert.

Bei der Wahl im März lag Ekrem Imamoglu, der Spitzenkandidat der Republikanischen Volkspartei (CHP), 13.000 Stimmen vorne. Anders als von Erdogan erwartet, ist es Yildirim nicht gelungen, den Trend umzukehren. Imamoglu hat seinen Vorsprung in den vergangenen Wochen ausgebaut. Selbst interne Umfragen der AKP sehen ihn inzwischen mindestens vier Prozentpunkte vor Yildirim.

Erdogan bemüht sich um unwahrscheinliche Verbündete

Die AKP war der Konkurrenz lange Zeit nicht nur finanziell überlegen - sondern auch logistisch und strategisch. Die Niederlage im März hat sie in einen Zustand der Panik versetzt.

In der AKP ist man ratlos, wie Imamoglu beizukommen ist, weshalb die Spitzen der Partei immer erratischer handeln. Erdogan tauchte lange ab, nur um in den vergangenen Tagen umso heftiger auf Imamoglu loszugehen. Yildirim inszeniert sich als Staatsmann, was durch die Pöbeleien von Innenminister Suleyman Soylu beinahe täglich konterkariert wird. Der Versuch der AKP Imamoglu als "Krypto-Griechen" zu diffamieren, führte lediglich dazu, dass dieser in Umfragen weiter zulegte.

Die Verzweiflung im Präsidentenpalast in Ankara ist inzwischen offenbar so groß, dass sich Erdogan um einen neuen, unwahrscheinlichen Verbündeten bemüht - die Kurden.

Erdogan hat Tausende prokurdische Politiker als Terrorhelfer verhaften lassen, sein Militär führte Krieg in den mehrheitlich kurdischen Städten im Südosten der Türkei. Nun benutzte Yildirim im Wahlkampf plötzlich das Wort "Kurdistan", was bei anderen Politikern in der Türkei schon mal zu Verhaftungen führte. Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu, ein Propagandainstrument der Regierung, war sich nicht zu schade, diese Woche ein Statement des inhaftierten PKK-Führers Abdullah Öcalan zu veröffentlichen, in dem dieser die Kurden zu Neutralität aufrief. Die prokurdische Partei HDP erklärte, am Sonntag trotzdem Imamoglu zu unterstützen - wie schon bei der Wahl im März.

Die türkische Opposition war lange Zeit zerstritten, zersplittert, durch die Niederlagenserie demoralisiert. Imamoglu hat sie neu belebt. Er ist anders als viele seiner Vorgänger in der Lage, breite Teile der Bevölkerung anzusprechen. Trotz der Annullierung seines Wahlsiegs und der Attacken der AKP hat er geradezu stoisch an seiner Botschaft der Versöhnung festgehalten. Sein Slogan "her sey cok güzel olacak" (alles wird gut) ist im Internet längst zu einem Trend geworden.

Imamoglus Popularität zeigt, wie sehr sich viele Menschen in der Türkei nach Jahren der Polarisierung und Aggression durch die Regierung nach Ausgleich sehnen. Sie ist auch ein Ausdruck der Stärke der türkischen Demokratie.

Erdogan hat in den vergangenen Jahren beinahe sämtliche demokratischen Institutionen geschliffen. Er hat die Justiz ausgehöhlt und die Medien gleichgeschaltet. Trotzdem ist eine überragende Mehrheit der Türken nach wie vor der Überzeugung, dass ein demokratischer Machtwechsel in ihrem Land möglich ist. Die Wahlbeteiligung im März lag bei 83 Prozent.

Wenn es Erdogan nicht überraschend gelingt, die Stimmung in der Istanbuler Bevölkerung zu drehen, dann hat er am Sonntagabend zwei (aus seiner Sicht) schlechte Optionen:

  • Er kann sich abermals weigern, die Wahl anzuerkennen, indem er das Ergebnis manipuliert oder Imamoglu durch einen Zwangsverwalter ersetzt, wie er das in etlichen Städten im Südosten des Landes getan hat. Beides könnte schnell zu Protesten und Chaos führen.
  • Oder er erkennt das Ergebnis an, was nicht nur die Opposition massiv stärken würde, sondern sehr wahrscheinlich auch zu einer Spaltung der AKP führen würde.

Für Erdogan wäre eine erneute Niederlage in Istanbul eine Blamage. Für die Demokratie in der Türkei ein unerwarteter Triumph.

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