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Nicaragua: "Wir haben keine Angst"

Foto: JORGE TORRES/ EPA-EFE/ REX/ Shutterstock

Blutige Proteste in Nicaragua Revolte gegen das Machthaber-Ehepaar

Im sozialistischen Nicaragua treibt eine geplante Rentenreform Jung und Alt auf die Straße. Die Wut der Menschen sitzt tiefer - und richtet sich gegen Präsident Ortega und seine Frau und Stellvertreterin, Rosario Murillo.

Erst waren es nur die Rentner, die gegen die geplante Kürzung ihrer Pensionen auf die Straße gingen. Das war am Mittwoch. Einen Tag später schlossen sich die Studenten in Managua an. Jugendliche und Bauern, Kirche und Arbeitgeberverband folgten.

Binnen vier Tagen hat der Protest ganz Nicaragua erreicht. In Managua, Masaya, León und Estelí - überall verbarrikadieren Demonstranten Straßen, zünden Regierungsgebäude an, plündern Bürgermeisterämter.

Der autoritäre Präsident Daniel Ortega reagiert mit Härte auf die Unzufriedenheit und Wut, schickte erst die Polizei ins Gefecht, die mit Tränengas und Gummigeschossen gegen die Demonstranten vorging. Am Wochenende setzte Ortega zur Verstärkung das Militär in Marsch, das nach Berichten von Augenzeugen vielerorts scharf auf die Demonstranten schoss. Zudem sind sandinistische Schlägertrupps auf den Straßen unterwegs und greifen ihrerseits Demonstranten und Journalisten an. Die Regierung behauptet, die Demonstranten würden aus dem Ausland angeheuert und bezahlt, um "das Bild Nicaraguas zu zerstören".

Nach Angaben des unabhängigen Nicaraguanischen Menschenrechtszentrum (Cenidh) kamen bei den Protesten zwischen Mittwoch und Samstagabend 25 Menschen ums Leben. 64 weitere wurden verletzt, 43 gelten als vermisst. Unter den Opfern befinden sich vor allem Demonstranten, eine Polizistin und ein Journalist, der am Samstagabend während einer Live-Übertragung in der Staat Bluefields von Unbekannten erschossen wurde. Binnen vier Tagen ist das zentralamerikanische Land am Rande eines Bürgerkriegs angelangt.

"Wir haben keine Angst"

Auslöser des Konflikts ist eine geplante Reform der Sozialkassen, die Rentner zu einer fünfprozentigen Kürzung ihrer Pensionen nötigen würde und Arbeitnehmer und Arbeitgeber zu drastisch erhöhten Abgaben verpflichtet. So sollen umgerechnet 200 Millionen Euro in die Kassen der Rentenkasse INSS gespült werden. Angeblich, so behauptet es die Regierung, sei die Erhöhung notwendig, um den Zusammenbruch der Sozialsysteme zu verhindern. Kritiker hingegen werfen der Regierung vor, die Kassen geplündert und das Geld für fragwürdige Projekte abgezweigt zu haben.

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Nicaragua: "Wir haben keine Angst"

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Die Wut über die Rentenreform ist auch zu einem landesweiten Aufstand gegen den unbeliebten Präsidenten Ortega und seine Frau und Vize-Präsidentin Rosario Murillo geworden. Die Bürger werfen dem mächtigen Paar eine selbstherrliche und korrupte Amtsführung vor und fürchten die Errichtung einer Familiendynastie.

Der Soziologe Roberto Stuart ist überrascht von der Wucht der Proteste. "Plötzlich ist die Wut der Menschen über den Machtmissbrauch eines präsidialen Ehepaars ausgebrochen, das dynastisch regiert, die Institutionen abgeschafft hat und sich als Herr und Meister Nicaraguas aufführt", sagt Stuart dem SPIEGEL. Längst gehe es nicht mehr nur um die Erhöhung der Sozialbeiträge, sondern darum, dem Ärger über eine undemokratische Regierung Luft zu machen.

Etwas sei anders an diesen Demonstrationen, sagt Carlos Chamorro, Herausgeber des Wochenmagazins "Confidencial" und Sohn der früheren Präsidentin Violetta Chamorro. "Es ist ein Protest, der keine sichtbaren Anführer hat, keine Organisation, die dazu aufruft und dessen einziges Motto ist: 'Wir haben keine Angst'."

Der Präsident will reden - aber nicht über die Toten

Ortega bot am Samstag in seinem ersten Auftritt seit Beginn der Proteste einen lauwarmen Dialog an, wollte aber dabei lediglich mit dem einflussreichen Arbeitgeberverband COSEP mögliche Modifikationen an der Rentenreform verhandeln. Die Toten der vergangenen Tage erwähnte er mit keinem Wort.

Der Ausgang des Konflikts ist völlig offen, zumal auch der COSEP dem Dialog mit Ortega nur zustimmen will, wenn die Regierung die Repression der Demonstrationen beendet, die Festgenommenen freilässt und die Pressefreiheit wieder herstellt. In den vergangenen Tagen hatte die Regierung diejenigen Fernsehsender abgeschaltet, die live über die Proteste berichteten.

Präsident Ortega müsste eigentlich aus eigener Erfahrung wissen, wo sozialer Protest in Nicaragua enden kann. Er war führender Kopf der Sandinistischen FSLN-Rebellen, die 1979 den Diktator Anastasio Somoza stürzten und dann die Macht übernahmen. Ortega wurde später Präsident und 1990 wegen des aus den USA finanzierten Contra-Krieges und der schweren Wirtschaftskrise des Landes abgewählt.

2007 übernahmen die Sandinisten und Ortega wieder die Macht. Und seither hat er alles dafür getan, diese nicht wieder abzugeben. Er hat sich mit rechten korrupten Politikern verbündet, die katholische Kirche umgarnt und die Unternehmer für sich gewonnen. Er hat die Verfassung gebeugt, um sich wiederwählen zu lassen, und seine Gegner nach und nach politisch kaltgestellt. Heute ist der frühere Revolutionär einer dieser lateinamerikanischen Herrscher, die weder links noch rechts sind, sondern deren einzige Ideologie die Macht und ihr Erhalt ist.

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Die Schriftstellerin Gioconda Belli schrieb am Freitag auf dem Kurznachrichtendienst Twitter: "Ich bin Sandinistin und unterstütze diesen Kampf, weil der Frieden nicht durch Unterdrückung, Missbrauch, ohne freie Wahlen und ohne Demokratie erreicht wird. Nicaragua ist nicht nur ein Ehepaar, Nicaragua sind wir alle." Für die kommenden Tage haben Vertreter der Zivilgesellschaft und Studentengruppen zu weiteren Protesten aufgerufen. Diese Mischung aus Unzufriedenheit und Wut könnte die Macht der Präsidentenpaares erstmals gefährden.

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