Rosa Angelina
Foto: Klaus EhringfeldDie Barrikaden sind abgebaut oder wurden mit Gewalt geräumt, die Paramilitärs wieder von den Straßen Nicaraguas verschwunden. Mit mehreren Interviews für internationale TV-Sender hat Präsident Daniel Ortega eine Medienoffensive gestartet. Dreieinhalb Monate nach Beginn der Proteste gegen ihn und seine autokratische Regierung mit mehr als 300 Toten und 2000 Verletzten fühlt sich der sandinistische Staatschef als Sieger.
Die Regierung geht gegen ihre Kritiker nun mit anderen Mitteln als roher Gewalt vor. In León, der zweitgrößten Stadt des Landes, wurden am Wochenende etwa 40 Krankenhaus-Ärzte und Schwestern entlassen, weil sie während der Proteste Regierungsgegner entgegen der ausdrücklichen Anordnung von Ortega ärztlich versorgt hatten. Die Mediziner sollen durch kubanische Ärzte ersetzt werden. Zudem geht die "Operation Säuberung" weiter: Oppositionelle und Intellektuelle werden mit Haftbefehlen oder Morddrohungen eingeschüchtert, Sicherheitskräfte nehmen ganze Familien fest, die sie verdächtigen, an den Protesten beteiligt gewesen zu sein.
Unterdessen stockt der "Nationale Dialog", der mit Verhandlungen eine Lösung der schwersten Krise seit Jahrzehnten in Nicaragua erreichen will. Die Gespräche, an denen aufseiten der Opposition Studenten, Unternehmer, Bauern, die Kirche und Vertreter der Zivilgesellschaft teilnehmen, begannen am 16. Mai. Inzwischen sind sie aber ausgesetzt, weil Ortega die Forderung nach vorgezogenen Präsidentschaftswahlen kommendes Jahr kategorisch zurückweist und als "Vorbereitung eines Staatsstreichs" bezeichnet.
Eine gespannte Ruhe liegt seitdem über Nicaragua. Während Ortega versichert, das zentralamerikanische Land kehre zur "Normalität" zurück, halten politische Beobachter die Stille für das Ergebnis eines taktischen Rückzugs der Opposition. "Die Regierungsgegner sind dabei, Pläne für die nächste Phase des Protestes auszuarbeiten", sagt der Soziologe Óscar René Vargas. Fast jeden Tag finde irgendwo im Land eine Protestveranstaltung statt. Am Samstag marschierten in Managua Zehntausende zur Unterstützung der Bischöfe Nicaraguas. Die Geistlichen haben eine Mediationsfunktion in der Krise eingenommen, werden aber von Ortega als parteiisch und umstürzlerisch bezeichnet.
SPIEGEL ONLINE hat Bürger von Nicaragua gefragt, warum sie weiter gegen ihre Regierung protestieren wollen.
SPIEGEL+-Zugang wird gerade auf einem anderen Gerät genutzt
SPIEGEL+ kann nur auf einem Gerät zur selben Zeit genutzt werden.
Klicken Sie auf den Button, spielen wir den Hinweis auf dem anderen Gerät aus und Sie können SPIEGEL+ weiter nutzen.
Edwin Román Calderón, 58, Pfarrer in der Gemeinde San Miguel, Masaya
"Masaya war die am härtesten getroffene Stadt während der bewaffneten Auseinandersetzungen. Wir zählten mehr als 30 Tote. Und hier im Viertel San Miguel waren überall Barrikaden um uns herum, es war wie im Krieg. Es wurde geschossen, Brandsätze flogen. Meine Kirche war Rückzugs- und Fluchtpunkt, Krankenstation und Leichenschauhaus. Das hier ist nicht wie 1979 im bewaffneten Aufstand gegen den damaligen Diktator Somoza. Das hier sind Jungs mit Schleudern, Steinen und manchmal hausgemachten Waffen gegen aufgerüstete Soldaten, Polizisten und Paramilitärs, die ohne Rücksicht auf Verluste schießen. Das Volk ist wütend auf die Regierung, weil Arbeit fehlt, die Institutionen gleichgeschaltet sind, die Korruption groß ist. Ich war sechs Wochen in Managua untergetaucht, kam nur für die Messen nach Masaya. Heute ist es ein Verbrechen, Geistlicher in Nicaragua zu sein. Aber Nicaragua ist noch längst nicht besiegt. Es ist ein Rückzug, eine Phase der Neuorientierung des Kampfes. Derweil geht die Repression weiter. Ganze Familien werden weggesperrt, Häuser niedergebrannt. Aber das Volk wird dem Präsidenten nicht erlauben, noch drei Jahre weiter zu regieren."
Rosa Angelina, 16, Oberstufenschülerin
"Ich komme aus einer Sandinistenfamilie. Mein Großvater hat gegen Somoza gekämpft. Aber das hier hat nichts mehr mit seinen Idealen zu tun. Die da oben führen Krieg gegen die Jugend. Das ist jetzt unser Kampf. Und die rot-schwarze Flagge der Sandinisten gibt mir nichts. Sie ist für mich so wie jede andere. Und mit unseren Mörsern, den Morteros, verteidigen wir uns. Wir füllen die Rohre mit Schießpulver, Gips, manchmal Scherben und Nägeln, und das Ganze wickeln wir dann mit Kordeln ein und hängen eine Lunte dran. Wir wollen eine neue Regierung und ein neues System, dafür stehen wir mit unserem Leben ein. Die Regierung hat uns Jungen nichts zu bieten."
Haydee Castillo, 56, Menschenrechtsaktivistin in Ocotal, Nueva Segovia
"Ich bin Sandinistin, und das lasse ich mir auch nicht von der Regierung nehmen. Ich komme aus Ocotal, im Norden Nicaraguas. Da vertrete ich die Interessen von Landwirten, die sich gegen die Regierung wehren. Aber sie sagen, wir sind Terroristen, weil wir die Interessen derer vertreten, die sich von der Regierung übergangen und überfahren fühlen. Wir und die Bauern kämpfen vor allem gegen die Projekte der Regierung und die Vergabe von Lizenzen an multinationale Unternehmen. Dafür haben sie mein Haus beschmiert, mich bedroht. Sie versuchen mich einzuschüchtern. Aber Leben zu retten und für Menschen einzustehen, deren Rechte verletzt werden, ist kein Verbrechen. Doch die Regierung sieht unsere Arbeit als gegen sich gerichtet an."
Hugo Torres, 70, Ex-Comandante Sandinista und Ex-General der Armee
"Ich bin auf der Straße, um gegen einen Präsidenten zu kämpfen, der sich längst in einen Diktator verwandelt hat. Daniel Ortega steht für alles Schlechte in diesem Land. Für den totalen Griff nach der Macht, die systematische Verletzung der Menschenrechte. Ich habe vor 40 Jahren an der Seite Ortegas für ein freies Nicaragua gekämpft, als wir schon mal einen Gewaltherrscher verjagt haben. Und ich tue es auch heute wieder, denn Ortega ist schlimmer, als es Anastasio Somoza jemals war. Er ist ein raffinierterer Wiedergänger von Somoza. Ich bin auf der Demo, weil ich meinem Traum und meinen Idealen eines freien, demokratischen und gerechten Nicaragua nicht abschwören kann. Ich hätte niemals gedacht, dass mir das jetzt noch einmal blühen würde."
Karina (33) und Nelson (30) Lorío, Eltern von Teyler
"Am Morgen des 23. Juni gegen 6.30 Uhr wollten wir unsere Kinder zu den Großeltern bringen, als wir Polizisten hinter uns sahen. Und plötzlich fielen Schüsse von irgendwo her. Ich merkte erst gar nichts, aber dann sehe ich, dass sie meinem Jungen Teyler in den Kopf geschossen haben. Ein Scharfschütze, irgendwo versteckt. Wir sind sofort ins Krankenhaus, aber es war zu spät, der Junge war tot. Mit gerade 14 Monaten. Seine siebenjährige Schwester versteht es bis heute nicht. Ich fühle einen solchen Schmerz und eine solche Machtlosigkeit. Und jedes Mal, wenn ich einen Polizisten sehe, verliere ich fast den Verstand. Wir sind seitdem auf jeder Demonstration, weil es nicht sein kann, dass die jungen Leute unterdrückt werden und mit schweren Waffen auf sie geschossen wird. Die Jugend ist genau so unschuldig wie mein Sohn. Ich will nur, dass die Regierung endlich abhaut."
Lesther Alemán, 20, Studentenführer im Untergrund
"Auf meinen Kopf ist eine Belohnung ausgesetzt. Seit ich Präsident Ortega im Mai beim ersten Nationalen Dialog aufgefordert habe, die Gewalt zu stoppen und seinen Rückzug zu verhandeln, lebe ich im Untergrund. Schon wenige Stunden danach kamen die ersten Drohungen. Aber das ist ein Kampf, der längst größer ist als jeder von uns. Es geht um ein neues Nicaragua. Unser Land ist seit dem Beginn der Proteste ein anderes. Wir werden weiter kämpfen, neue Formen des Drucks auf die Regierung und des zivilen Ungehorsams suchen. Eines ist sicher: Die Zeit des Präsidenten ist abgelaufen. Aber der Preis ist hoch. So viele Tote, so viele Menschen im Exil. Auch meine Eltern haben das Land verlassen. Ich will nicht, dass sie meinetwegen leiden. Aber es gibt keinen Weg zurück, auch wenn ich mich manchmal selbst erschrecke, mit was für einer Rasanz sich mein Leben verändert."
Rosa Angelina, 16, Oberstufenschülerin
"Ich komme aus einer Sandinistenfamilie. Mein Großvater hat gegen Somoza gekämpft. Aber das hier hat nichts mehr mit seinen Idealen zu tun. Die da oben führen Krieg gegen die Jugend. Das ist jetzt unser Kampf. Und die rot-schwarze Flagge der Sandinisten gibt mir nichts. Sie ist für mich so wie jede andere. Und mit unseren Mörsern, den Morteros, verteidigen wir uns. Wir füllen die Rohre mit Schießpulver, Gips, manchmal Scherben und Nägeln, und das Ganze wickeln wir dann mit Kordeln ein und hängen eine Lunte dran. Wir wollen eine neue Regierung und ein neues System, dafür stehen wir mit unserem Leben ein. Die Regierung hat uns Jungen nichts zu bieten."
Melden Sie sich an und diskutieren Sie mit
Anmelden