Niederlande Dschihad hinterm Deich

Die Holländer denken um. Der Mord an Regisseur Theo van Gogh wird das Land verändern, das seit Jahrhunderten als Hort des Liberalismus gilt. Der Gesellschaft wird zunehmend bewusst, dass grenzenlose Toleranz sich in letzter Konsequenz selbst zerstören kann.
Von Erich Wiedemann

Amsterdam - Das hat es in der niederländischen Kuschel- und Konsensdemokratie noch nicht gegeben: Der Himmel über Den Haag gesperrt, Scharfschützen auf den Dächern, eine Koranschule in Flammen, drei Polizisten werden bei der Belagerung eines Hauses von einer explodierenden Handgranate verletzt.

"Wir werden uns daran gewöhnen müssen, dass Holland keine Insel des Friedens mehr ist", sagt Adjiedj Bakas, ein enger Freund des ermordeten Filmregisseurs Theo van Gogh. "Wir stehen mitten in einem Dschihad." Die Niederländer würden nur langsam begreifen, dass ihnen turbulente Zeiten bevorstünden.

Bakas glaubt aber nicht, dass es ein Flächenbrand wird. Die Anschläge der vergangenen zwei Tage spiegelten die Erregung wider, die der Mord an dem "göttlichen Dicken", wie ihn der Volksmund nannte, ausgelöst habe. Es werde wieder leiser werden im Land. Der Übergang zum "islamischen Königreich der Niederlande" werde sich schleichend vollziehen. Um das Jahr 2050 herum seien die Muslime in der Mehrheit. "Dann wird die Machtübernahme vollzogen sein." Bakas haut sich vergnügt auf die Schenkel. Er ist ein "Grappenmaker", ein Spaßmacher wie sein Freund van Gogh. Aber in dieser Sache, so versichert er, meine er es verdammt ernst.

Die Statistik lässt keinen Zweifel, dass langfristig alles auf die Majorisierung der Nation durch die Fremden zuläuft. Schon in sechs bis acht Jahren werden "Allochthonen", wie sie hier heißen, in den vier größten Städten - Amsterdam, Rotterdam, Utrecht, Den Haag -die Bevölkerungsmehrheit stellen. Aus Sicht vieler Holländer eine erschreckende Perspektive. Nach einer aktuellen Umfrage sind 80 Prozent von ihnen der Meinung, dass die Regierung den Anteil der muslimischen Ausländer begrenzen sollte. Und so denken sie nicht erst seit gestern. Der triumphale Siegeszug des später ermordeten Rotterdamer Politikers Pim Fortuyn wäre nicht zu erklären, wenn es anders gewesen wäre.

Fortuyn hatte kurz vor seinem Tod erklärt: "Die Muslime in unserem Land betrachten uns als minderwertige Menschen, die noch weniger wert sind als Schweine und die man deshalb straflos bestehlen kann." Solche Gäste sollten nach seiner Auffassung in Holland nicht länger willkommen geheißen werden. Unerhörte Töne in einem Land, das seit Jahrhunderten als Hort des Liberalismus und der Toleranz gilt.

Fortuyn war Katalysator für eine Entwicklung, die die geistige Substanz der Nation erschütterte. Die traditionellen Parteien haben einen Teil seines Erbes fortgeschrieben. Die Regierung hat Verordnungen erlassen, die die Gewalttätigkeit in den Familien der Muslime unter Kontrolle bringen sollen, und die Asylgesetze gestrafft. Abgelehnte Bewerber sollen künftig die Zeit bis zur Zwangsabschiebung in geschlossenen Lagern verbringen. Selbst die "Partei der Arbeit" war gegen die Versuchung der Fortuynschen Law-and-order-Politik nicht immun.

Der christdemokratische Premier, Jan Peter Balkenende, und seine Regierung wehren sich gegen den Vorwurf, sie förderten - bewusst oder unbewusst - Ausländerfeindlichkeit. Schwierigkeiten, so heißt es, machten allein die Muslime. Andere Volksgruppen - Surinamer, Molukker, Schwarzafrikaner - hätten in Holland keine Koexistenzprobleme. Was natürlich nicht heißt, dass nur Muslime abgeschoben werden.

Der Anteil der Muslime an der Gesamtbevölkerung liegt in den Niederlanden erheblich höher als im EU-Durchschnitt. Als problematisch gelten vor allem die marokkanischen Einwanderer, die die große Mehrheit stellen. Sie stammen weit überwiegend aus ländlichen Gebieten. Sie sind religiöser und in Konfessionsangelegenheiten echauffierbarer als die anderen Muslime. Ihre Integrationsbereitschaft tendiert gegen null.

"Es gab bei uns nie eine gezielte Immigrationspolitik, es war jahrzehntelang immer nur eine planlose Zuwanderung", sagt der Amsterdamer Politikwissenschaftler und "Stadtsoziologe" Paul Scheffer. Die nichtwestlichen Ausländer müssten bereit sein, gewisse Normen ihres Gastlandes zu akzeptieren.

Also Leitkultur? Und so was fordert ein gutsozialdemokratischer Professor?

Nein, sagt Scheffer. In Holland könne nach wie vor jeder nach seiner Facon glücklich werden. Es müsse aber gewährleistet sein, dass nicht nur die Minderheit von der Mehrheit, sondern auch die Mehrheit von der Minderheit toleriert werde. Und das sei in den Niederlanden nicht immer gewährleistet gewesen.

Der Tatort an der Linnaeus Straat, wo der Mörder sein Opfer mit einem langen Messer zerstückelte, ist fünf Tage nach dem Mord noch immer mit Blumen und Devotionalien bedeckt. An den Polizeisperren ziehen sich meterlange Blumengirlanden entlang. Dazwischen Kerzen, Heineken-Dosen und Zigarettenschachteln. Der Tote war ja kein Kostverächter. Einer hat ihm einen Riesenteddy geopfert, mit einem Zettel um den Hals, auf dem ein letzter Gruß steht: "Ruhe sanft, lieber Theo." Am Bordstein lehnen zwei Briefe mit Sympathieadressen. Der eine ist gezeichnet mit "Mohamed - Marokkaner".

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