Streit über Nord Stream 2
Warum die Osteuropäer so strikt gegen die Pipeline sind
Beim Streit um die Ostseepipeline geht es für Polen und Balten kaum um Energiepolitik, dafür aber um ihr Standing in der EU: Werden osteuropäische Erfahrungen berücksichtigt – oder doch von den Deutschen weggewischt?
Pipeline-Bau in der Ostsee: Nicht mehr aufzuhalten?
Foto: Bernd Wüstneck / DPA
Treffen von deutschen und polnischen Spitzenpolitikern verlaufen mehr als 30 Jahre nach der Wende in einer an Langeweile grenzenden Routine ab. Zum Beispiel besuchte am vergangenen Donnerstag Vizepremier Jarosław Gowin Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble in Berlin.
Gemeinsam freute man sich über das Wachstum beim deutsch-polnischen Handel (acht Prozent allein im November des Krisenjahres 2020 gegenüber 2019), versprach sich Zusammenarbeit bei eigentlich allem: Klimaschutz, Digitalisierung, Impfstoff-Beschaffung, Wiederaufbau. Man betonte »die Schlüsselrolle enger deutsch-polnischer Beziehungen auf der Grundlage der bestehenden Aufgaben und gemeinsamer Werte«.
Doch in Wahrheit liegt Streit in der Luft – und das schon lange: Tage nach dem Treffen sollten die Bauarbeiten an der Ostseepipeline Nord Stream 2 wiederaufgenommen werden. Die Röhre ist die zweite ihrer Art, sie ist fast fertig und soll in Kürze 55 Milliarden Kubikmeter Gas von Russland direkt nach Mecklenburg-Vorpommern schaffen. Für Berlin ist das Projekt ein »rein wirtschaftliches«, für die Polen ein – so sagte es Gowin – Verstoß gegen die Idee der »europäischen Solidarität«. Nord Stream 2 ist der Elefant im Raum der deutsch-polnischen Beziehungen.
Alle polnischen Parteien sind strikt gegen die Pipeline
Es ist nicht so, dass die Ablehnung eine neue nationalistische Marotte der rechtskonservativen PiS-Regierung in Warschau wäre. Alle polnischen Parteien sind strikt gegen die Pipeline. Und genauso einig sind sich in der Frage Esten, Letten, Litauer.
Tschechen und Slowaken, Bulgaren und Rumänen sind mindestens sehr kritisch, denn sie glauben: Nord Stream 2 macht Europa von russischem Gas abhängig, gute Geschäfte mit Russland sind das falsche Signal an Präsident Wladimir Putin, der die Krim gestohlen hat und seine Kritiker vergiften lässt.
Aber es geht für die osteuropäischen Mitglieder um mehr als Energie- und Geopolitik. Dass das Gas knapp wird in Tallinn oder Warschau, ist nicht die Sorge. Die Versorgung steht heute auf vielen Säulen. Weil ihr Transitgebühren verloren gehen können, geriete wohl die Ukraine unter Druck. Und viele Polen betrachten ihr Nachbarland als politisches Mündel.
Die direkte Rohrleitung zwischen dem größten EU-Land, der Bundesrepublik, und einem noch in hegemonialer Nostalgie schwelgenden Russland, weckt böse historische Erinnerungen im Osten des Kontinents.
Zweifel an der EU haben sich eingeschlichen
Werden unsere Erfahrungen eigentlich respektiert, unsere Bedenken gehört? Das fragen sich nicht wenige Polen, Tschechen oder Letten. Oder wischt die Bundesrepublik sie einfach vom Tisch, wenn es ums Geschäft geht? In allen osteuropäischen EU-Ländern ist die Zustimmung zur Brüsseler Union nach wie vor sehr hoch, doch gleichzeitig haben sich Zweifel eingeschlichen: Nehmen die uns wirklich ernst als vollwertige Partner?
Für den konservativen EU-Abgeordneten Jacek Saryusz-Wolski ist die Frage schon beantwortet. Neulich wies er etwa darauf hin, dass Brüsseler Spitzenposten nur zu sieben Prozent mit Osteuropäern besetzt sind, obwohl doch die Länder 20 Prozent der EU-Bevölkerung stellen. Scharf kritisiert er, dass die Kommission nicht energisch genug gegen das Pipeline-Projekt vorgeht: »Die Kommission verletzt zum wiederholten Mal die Grundsätze der Parteilosigkeit und verteidigt deutsche Interessen.«
Die deutsche Unnachgiebigkeit bei der Pipeline auf der einen Seite und Berlins Nachgiebigkeit gegenüber Russland auf der anderen ist aus osteuropäischer Sicht nicht zu verstehen. Tenor: Ist den Deutschen nicht klar, mit wem sie es zu tun haben?
Schon 2006 hatte Polens damaliger Verteidigungsminister Radek Sikorski den schrillen Ton der Debatte gesetzt und die Einigung über den ersten Strang der Ostseepipeline mit dem Hitler-Stalin-Pakt verglichen. Auf dessen Grundlage hatten sich Nazideutschland und die Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg Polen geteilt und dort Massenverbrechen begangen.
Deutsch-russische Kumpelei spielt heute auch im Streit um die polnische Justizreform eine Rolle. Wie etwa könne Deutschland gegenüber Polen auf das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit verweisen – und gleichzeitig Geschäfte mit Gazprom machen, fragt der PiS-Politiker Patryk Jaki. Der Konzern gehört eindeutig zum Herrschaftssystem Putins.
Deutschland bestätigt dieser Tage ein Bild, das osteuropäische Rechte sorgsam pflegen. Danach ist die Bundesrepublik ein doppelzüngiger Hegemon, der europäische Ideale im Munde führt, aber in Wirklichkeit seine Interessen rücksichtslos durchsetzt.
Auch Konrad Popławski, Experte am Warschauer Thinktank »Zentrum für Oststudien«, ist dieses Deutschland unheimlich: »Deutschland ist der eindeutige Anführer.« Seit dem Brexit gebe es in Europa kaum noch einen ernsthaften Gegenspieler.
Berlin verärgere mit Nord Stream zudem auch noch die USA. Dabei sei ein Neuanfang in den transatlantischen Beziehungen nach dem Trump-Desaster dringend nötig. Eng müssten Europa und die USA zusammenstehen, um nicht nur Russland, sondern auch China etwas entgegensetzen zu können. »Aber Berlin geht Schritte in genau entgegengesetzter Richtung«, sagt Popławski.