
Nordafrika Tunesien-Revolution zwingt Europa zum Umdenken
Hamburg - Es ist nicht sein Lieblingsthema. Der französische Präsident Nicolas Sarkozy senkt den Kopf, fixiert den Zettel auf seinem Rednerpult. Frankreich habe das "Ausmaß der Verzweiflung der Tunesier unterschätzt", liest er ab. Es habe in Tunesien "unerträgliche Korruption" gegeben.
Sarkozy musste auf der Pressekonferenz am Montag Schaden begrenzen. Jahrelang haben Frankreich und die Europäische Union den tunesischen Diktator Zine el-Abidine Ben Ali hofiert - und damit ihr Ansehen beschädigt. Es ging um Wirtschaftsinteressen und Sicherheitspolitik, um Menschenrechte ging es nicht.
Als die Tunesier zu Tausenden auf den Straßen demonstrierten, konnten sie nicht auf Hilfe aus dem Norden zählen. Die französische Außenministerin wollte Ben Ali noch wenige Tage vor seiner Flucht das "Know-how unserer Sicherheitskräfte zur Verfügung" stellen - als die Polizei bereits mehrere Demonstranten erschossen hatten. Doch Madame störte das nicht. Kabinettskollege Frédéric Mitterrand sekundierte, es sei "ganz und gar übertrieben", Ben Ali als Diktator zu bezeichnen.
" Die Europäer haben gemacht, was die Franzosen wollten. Sie dachten, dass Ben Ali ein Bollwerk gegen Terrorismus sei und deswegen müsse man seine Diktatur akzeptieren", kritisiert Daniel Cohn-Bendit, Fraktionschef der Grünen im Europaparlament. Selbst als Ben Ali immer weiter unter Druck geriet, konnten sich die europäischen Mitgliedstaaten lediglich darauf einigen, die Ereignisse aufmerksam weiterzuverfolgen. Was sie wenige Stunden später sahen, war die Flucht Ben Alis. Dazu beigetragen hatten sie nicht.
"Durchwurschteln wie bisher geht nicht"
Immer lauter werden nun selbstkritische Stimmen. Im Rückblick sei es ein Fehler gewesen, auf autoritäre Regime zu setzen, sagt Rainer Stinner, außenpolitischer Experte der FDP im Bundestag. Man habe auf Stabilität gesetzt, die Menschenrechte aber zu kurz kommen lassen. Auch CDU-Außenexperte Ruprecht Polenz gesteht ein, die Angst vor Islamisten habe zu einer falschen Politik geführt. In der "Rheinischen Post" fordert er: "Wir brauchen eine Strategie, die Freiheit und Rechtsstaatlichkeit fördert."
Doch wie soll diese Strategie aussehen? Die Europäische Union stützt sich auf Werte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Grundfreiheiten, sie sind im Vertrag von Lissabon verankert - und auch ihre bisherige Strategie gegenüber den nordafrikanischen Staaten fußt darauf. Es ist nur die Frage, wie sehr man darauf pocht. "Die EU gilt als Kraft des Guten, aber was sie betreibt, ist knallharte Interessenspolitik", sagt Annegret Bendiek, Expertin für EU-Außenpolitik bei der Stiftung Wissenschaft Politik in Berlin. "Die EU muss sich fragen, ob sie mit Staaten kooperien will, wo die Menschenrechte mit Füßen getreten werden." Wichtig sei es, konsequent zu sein: "Durchwurschteln wie bisher führt nicht zu effektiver Politik."
Es sind vor allem die skandinavischen Staaten, die an deutlichen Worten der EU interessiert sind und auf die Einhaltung von Menschenrechten pochen. Beim Außenministertreffen am 31. Januar dürfte der Maghreb Thema werden.
Europäische Union umschmeichelt Gaddafi
Schon bald könnte die Haltung der Europäischen Union erneut getestet werden. Auch in den Nachbarländern Tunesiens brodelt es. In Algerien ist am Sonntag ein Mann gestorben, der sich selbst angezündet hat - eine ähnliche Tat hatte im Dezember die tunesischen Aufstände ausgelöst. Bereits seit Wochen protestieren auch algerische Oppositionelle, sie setzen sich für Demokratie und ein Ende des seit 1992 geltenden Ausnahmezustands ein. Am Sonntag löste die Polizei gewaltsam eine Demonstration auf, Dutzende Menschen sind wohl verletzt worden.
Auch im Jemen gab es am Wochenende Proteste. In der Hauptstadt Sanaa forderten Tausende den Rücktritt von Präsident Ali Abdullah Saleh, der seit 32 Jahren im Amt ist. Am Freitag hatten sich ebenfalls Demonstranten in mehreren Städten Jordaniens versammelt, um die Regierung zum Rücktritt zu drängen.
Doch wenn die Europäische Union schon in Tunesien wenig Bereitschaft gezeigt hat, sich für Demokratie und Menschenrechte einzusetzen, fehlen ihr in Algerien oder Libyen schlicht die politische Macht, um Druck auszuüben. Mit Tunesien pflegen immerhin die Europäer enge Handelsbeziehungen: 73 Prozent der tunesischen Exporte gehen in die EU, umgekehrt stammen 72 Prozent der tunesischen Importe aus der EU.
Staaten wie Algerien, Libyen oder Jordanien hingegen sind wirtschaftlich nicht so stark verflochten mit Europa. Zudem gehen wichtige Öl- und Gaslieferungen in die .
Libyens Staatschef Staatschef Muammar al-Gaddafi - vor wenigen Jahren noch Persona non grata in der westlichen Welt - wird ohnehin heftig umschmeichelt. Er soll Flüchtlinge aus Europa fernhalten. Die EU verhandelt mit Tripolis über ein Abkommen, Flüchtlinge zurückzunehmen. Für Menschenrechtler ist das ein Skandal. Wie das Leben in libyschen Auffanglagern aussieht, ist bereits jetzt zu sehen: Sie landen in überfüllten Gefängnissen, werden misshandelt und in fensterlosen Containern an die Grenze abgeschoben.
Das Europäische Parlament protestierte vor wenigen Tagen: Das Vorhaben sei absolut inakzeptabel. Es dürfe "keinen schmutzigen Deal mit einem Diktator wie Gaddafi" geben, sagte die grüne EU-Abgeordnete Franziska Brantner. Wenn die EU weiter sein Regime stütze, sei das weder vereinbar mit europäischen Werten noch im Interesse der Region.
Realpolitik versus Wertepolitik: Von der Europäischen Union ist in nächster Zeit allerdings wohl keine radikale Wende ihres Handels zu erwarten. Immerhin, sagt Expertin Bendiek, sei dem EU-Kommissar Stefan Füle, der für für europäische Nachbarschaftspolitik zuständig ist, die Beachtung von Menschenrechtsstandards sehr wichtig. Der europäische Grüne Cohn-Bendit ist da skeptischer: "Herr Füle ist guten Willens, aber er hat wenig Spielraum." Umso wichtiger, sagt Cohn-Bendit, sei ein deutliches Bekenntnis zu den Menschenrechten: "Es ist schwer, klar Position zu beziehen. Aber es ist unerlässlich."