
Nordjemen: Verzweiflung und Ruinen
Nordjemen Leben in Trümmern und Staub
Die Kriege hier kamen wie die Jahreszeiten, und die Menschen gewöhnten sich daran, sie zu zählen wie Lebensjahre: der erste Krieg, der zweite, der dritte...
Der sechste Krieg im nördlichen war der schlimmste, weil er ein Land traf, das schon am Boden lag. Jede neue Runde war komplizierter als die vorige, rücksichtsloser, ausgefochten mit immer teureren Waffen. Der Konflikt wuchs an wie ein Geschwür, genährt von immer neuem Leid und immer vielschichtigeren Interessen.
"Was brauchen Sie?", fragt die EU-Kommissarin Kristalina Georgiewa einen hageren, zahnlosen Mann. "Hilfe", sagt der Mann.
Humanitäre Einsätze sind sehr einfach. Es fehlt an allem, an Wasser, Mehl, Medikamenten, Schulen und Kleidung, an Rechten, Brennstoff, Transport, Betten und Schatten. Alles ist willkommen. So einfach ist das. Eigentlich.
Eigentlich ist auch genügend Geld da. Die EU wird in diesem Jahr 19,5 Millionen Euro bereitstellen, das Flüchtlingswerk der Uno, das UNHCR, knapp zehn Millionen Dollar.
Es geht eigentlich nur darum, das Material dorthin zu bringen, wo es am dringendsten gebraucht wird.
Und das ist das Problem. "Wir brauchen Zugang, Zugang, Zugang", sagt Georgiewa. "Wir wissen am besten, wo die Not am größten ist", hat ihr der Gouverneur von Saada geantwortet. Bei ihm sei die Hilfe am besten aufgehoben.
Es herrscht ein Nicht-Kriegszustand - noch
Es ist das erste Mal, dass eine hochrangige Delegation sich in Saada umsehen kann. António Guterres ist der Chef des UNHCR, Georgiewa sein Pendant in der EU-Kommission. Es ist unüblich, gemeinsame Reisen zu machen. Doch die Lage im sei zu ernst, sagen sie, um sich an Üblichkeiten zu halten.
Die Delegation geht durch die Ruinen des Stadtzentrums von Saada. Die Verwüstung ist total, und ihr Anblick nur auszuhalten, weil zerstörte Lehmbauten dem Auge erträglicher sind als zerstörter Beton. Zumal, wenn überall Kinder zwischen den Lehmwänden spielen.
Strom kommt aus Generatoren, Wasser muss in Kanistern herangeschleppt werden. Und dennoch sind viele froh, hier hausen zu können. Außerhalb der Stadt sei die Situation noch ernster: "Die Unterernährung bei Kindern unter fünf Jahren ist dort schlimmer als in Darfur zu Beginn des dortigen Konflikts", sagt ein leitender Humanitärer. In manchen Gebieten gebe es seit fünf Jahren keine medizinische Versorgung.
Seit August 2010 herrscht in den Nordprovinzen des Jemen ein Waffenstillstand. Ein fragiler Nicht-Kriegszustand, der jederzeit wieder ausgeknipst werden kann. Die sechs Kriegswellen haben inzwischen zu viele Waffen ins Land gebracht, und zu viele haben ihre eigenen Interessen in dem Konflikt. "Wir müssen jetzt zeigen, dass Frieden Entwicklung bringt, sonst geht es wieder los", sagt die Kommissarin.
Die Regierung versucht, den Konflikt herunterzuspielen. "Die Huthis sind im Grunde nur eine Familie", sagt ein jemenitischer Diplomat, der die Gruppe begleitet. Kein Staat gibt gern zu, über weite Landesteile keinerlei Macht mehr zu haben. Kontrollposten markieren einen Zirkel von etwa sieben Kilometern um die Stadt. Jenseits davon beginnt eine kaum zugängliche Zone, in der sich die Zukunft des Jemen und damit der Region entscheiden könnte.
Freie Hand für den "Kampf gegen den Terror"?
Die Huthi sind ein Stamm der Haschemiten und damit Abkömmlinge des Propheten Mohammed. Ihre Religion, der Saidismus, ist eine Form der Schia, aber in Riten dem Sunnismus sehr ähnlich. Jedenfalls beten Huthis und Sunniten in denselben Moscheen.
Ihr Anliegen ist aber kein religiöses: "Die Huthi fühlen sich von der Zentralregierung vernachlässigt. Sie wollen vor allem Entwicklung", sagt Georgiewa.
Verschärft wurde der Konflikt, weil der mächtige Nachbar Saudi-Arabien die Huthis der Nähe zu Iran verdächtigte und versuchte, die eigene Religionslesart, den strenggläubigen Wahabismus, zu verbreiten.
Und die Regierung in Sanaa tat alles, die rebellischen Huthis als Parteigänger der darzustellen, um im Konflikt freie Hand für den "Kampf gegen den Terror" zu bekommen.
Der Krieg um Saada "hat zwei grundlegende Säulen von Jemens Stabilität verletzt: jene politische Formel aus Teilung der Macht und der allmählichen Annäherung zweier religiöser Identitäten", schreibt die International Crisis Group in ihrer aktuellen Analyse.
Ringsum nur steinige Wüste - bis zum Meer
António Guterres und Georgiewa, der ehemalige Premier Portugals und die bulgarische Weltbankerin, können miteinander. Sie seien, so heißt es, ein Glücksfall für die internationale Katastrophenhilfe. Keiner von beiden spielt sich in den Vordergrund. Wenn sie auf dem Boden einer der Hütten hocken, nachhaken, woran es fehlt, was besser werden muss, dann ist es ihnen egal, ob eine Kamera zuschaut.
Ein Treffen mit Huthi-Vertretern wird erst nach langem Verhandeln zugelassen - "auf eigene Verantwortung", wie der Gouverneur sagt. Er könne jenseits der Kontrollposten für nichts mehr garantieren.
Guterres und Georgiewa werden von einem Scheich Abu Ali empfangen. Die Krieger im Raum kauen Kat und haben ihre Kalaschnikows in den Schoß gelegt. Das ist hier üblich. Ungewohnt war etwas anderes: "Sie waren sehr jung. Einer noch ein Kind, vielleicht zwölf oder 13", erzählt die Kommissarin. Bislang war von Kindersoldaten im Jemen noch nichts bekannt.
"Die Huthis haben uns die Sicherheit von Helfern und Konvois zugesichert. Es würde keine Kontrolle über die Verteilung von Hilfsgütern geben", sagt Georgiewa. Beide Kommissare hoffen, dass jetzt auch die Regierung in Sanaa ihre Checkpoints für Hilfslieferungen und Helfer öffnet.
Der Platz auf der Entführungs-Wunschliste der Qaida? "Ziemlich weit oben"
"Unser Hauptproblem sind die Milizen", sagt Raul Rosende, Chef des Uno-Büros in Sanaa für die Koordination der humanitären Hilfen. Die Regierung bedient sich der Stammesfehden, um die Huthis zu schwächen. Regelmäßig werden Hilfskonvois entführt. Oder westliche Helfer gekidnappt, als bequemes Tausch- und Druckmittel. "Wir sind vor allem eines: Ressource", sagt der schwedische Ingenieur Lennart Hansson von der UNHCR. Die Dienste hätten ihm seinen Platz auf der Qaida-Entführungs-Wunschliste mitgeteilt: "ziemlich weit oben".
"Jemen hat als einziges arabisches Land die Uno-Flüchtlingskonvention von 1951 unterzeichnet", sagt Guterres. Und Georgiewa: "Die Ärmsten sind die Gastfreundlichsten." Jemen, das ärmste aller arabischen Länder, gewährt allen Bürgerkriegsflüchtlingen Bleiberecht. Und das sind in dieser Region nicht wenige.
Jede Woche treiben somalische Flüchtlinge an der Küste des Golf von Aden an. Äthiopier werden ins Land geschmuggelt, Kinder und Frauen oft von Händlern nach Saudi-Arabien verkauft. Das UNHCR schätzt die Zahl der Somalier im Jemen auf 350.000.
Das Land kann sich seine Großzügigkeit nicht leisten. Es gibt für die eigene Bevölkerung schon nicht genug Wasser, Gesundheitszentren, Schulen, Arbeit. Und die jemenitischen Qaida-Zellen rekrutieren dort, wo die Armut am größten ist.
Jemen wird in wenigen Jahren kaum noch Einnahmen durch Erdöl und Gas haben. Auf Tourismus-Messen ist das Land seit den Qaida-Anschlägen kaum noch als attraktiv zu vermitteln.
Das Flüchtlingslager in al-Kharaz liegt am anderen Ende des Landes, am südlichsten Punkt Jemens, gleich gegenüber vom Horn von Afrika.
Eine Stadt aus Staub und herumfliegenden Plastiktüten, aus ausgebleichten UNHCR-Zelten, Kartonwänden und bewaffneten Aufpassern. Ringsum steinige Wüste bis zum Meer.
Seit kurzem erst gibt es abends Licht in der Zeltstadt. Vorher hatten die Flüchtlinge in kompletter Dunkelheit vor ihren Behausungen gehockt, die Zahl der Vergewaltigungen sei in dieser Zeit, so die UNHCR, "stark angestiegen".
Die Delegation besichtigt eine Community-Baracke. Sie bekommen erzählt, wie Flüchtlinge zu Fuß 90 Kilometer nach Aden laufen, um dort ein paar Scheine zu verdienen. Wie manche die Sachspenden der Hilfswerke verkaufen, um an Geld zu kommen.
Ein Junge zieht an einem Faden einen aufgeschnittenen Milchkarton, mit Schraubverschlüssen als Räder und beladen mit Steinen.
Auf den Anhöhen am Rand des Camps stehen Leute mit selbstgemalten Spruchbändern. Es sind Oromo aus Äthiopien. Sie wollen mehr Rechte und mehr Hilfe und bessere Aussichten auf einen legalen Status.
Sie erzählen von Bestechung und Diskriminierung. Ein Kind sei gestorben. Sie haben Briefe vorbereitet: "To All Human Rights Agencies". Sie sind selbstbewusst und gut organisiert. Sie wissen sich Gehör zu verschaffen.
Das ist die gute Nachricht.