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Nordkoreas Atomwaffentest Kims gefährliches Manöver

Nordkorea hat seinen sechsten Atomwaffentest durchgeführt - und damit alle überrascht: die USA, Südkorea und selbst den Verbündeten China. Die erneute Provokation von Machthaber Kim setzt Peking unter Druck.

Um 11 Uhr am Sonntagmorgen nehmen die Menschen in Chinas Nordosten eine schwere Erschütterung wahr: "Ich lag auf dem Sofa und wunderte mich, warum ich mich plötzlich so schwindlig fühle", sagt Fang Linping, 58. "Ich stand auf, und als ich zum Fenster ging, bemerkte ich, dass die Erde bebt."

Frau Fang lebt in Jilin, mehr als 200 Kilometer von der Grenze zu Nordkorea entfernt. In der Stadt Yanyi, die nur 30 Kilometer vor der Grenze liegt, ist das Beben noch stärker wahrzunehmen. Ein Internet-User schreibt: "Bei uns fallen gleich die Blumenkisten um." Wenige Minuten später zeichnen chinesische Seismographen ein zweites, schwächeres Beben auf.

Es ist fast derselbe Ablauf wie vor einem Jahr, am 9. September 2016, als Nordkorea jenseits der Grenze eine Atombombe zündete. Doch diesmal sind die Erschütterungen deutlich stärker. 6,3 auf der Richterskala misst das erste, 4,3 das zweite Beben. Zwei Stunden später bestätigt sich der Verdacht: Die Regierung in Pjöngjang verkündet, es habe eine Wasserstoffbombe getestet, ein "vollkommener Erfolg" und ein "bedeutender" Schritt zur Vollendung des nordkoreanischen Atomprogramms.

Trump: überrumpelt

Obwohl dieser Test, der sechste seit 2006 und der vierte seit der Machtübernahme von Kim Jong Un, erwartet worden war, trifft er gleich mehrere Beteiligte überraschend. Das gilt erstens für Donald Trump. Vor zwei Wochen noch hatte der US-Präsident seinen jüngsten verbalen Showdown mit Kim für vorübergehend beendet erklärt. Der nordkoreanische Diktator, schrieb er auf Twitter, habe eine "weise und gut durchdachte Entscheidung" getroffen, als er einen möglichen Angriff auf die US-Insel Guam aufschob. "Ich glaube, er fängt an, uns zu respektieren", sagte Trump. Eine Behauptung, die den Erfolg seiner eigenen Nordkorea-Politik feststellen sollte - und eine Behauptung, die offensichtlich voreilig war.

Trump scheint deutlich später mit der nächsten Provokation aus Pjöngjang gerechnet zu haben. Noch am Samstag hatte er Reportern erzählt, dass er mit Südkorea über den möglichen Rückzug der USA aus einem Freihandelsabkommen diskutieren wolle, das sein Vorgänger Barack Obama abgeschlossen hatte. Für den US-Präsidenten offenbar ein wichtiges Thema - aber schwerlich eines, mit dem man einen so wichtigen Verbündeten belasten würde, wenn man einen neuen Atomtest erwartet.

Südkoreas Entspannungspolitik gerät ins Wanken

Auch Südkoreas Präsident Moon Jae-in trifft der sechste Nukleartest zu einem ungünstigen Zeitpunkt. Zwar hatte er seine Haltung gegenüber Nordkorea in den vergangenen Wochen verschärft und ließ die von Pjöngjang kritisierten Militärmanöver durchführen. Doch bislang hält er an der Politik der Entspannung fest, für die er vor und nach seiner Wahl im Frühjahr warb. Moon will Gespräche mit Nordkorea, kein Schreiduell, wie es Trump und Kim Anfang August ausgetragen hatten - geschweige denn eine Militäroperation.

Nach dem neuerlichen Atomtest wird es für Moon schwieriger, diese Politik aufrechtzuerhalten. Sein Präsident werde mit Washington darüber sprechen, die "stärksten strategischen Mittel" einzusetzen, so Moons nationaler Sicherheitschef. Damit könnte eine Aufstockung des nuklearen Arsenals im Westpazifik gemeint sein.

Schlechter Zeitpunkt für Peking

Dies wiederum würde China herausfordern, das offenbar auch überrascht wurde. Nordkoreas Nukleartests werden in Punggye-ri, nur etwa 100 Kilometer östlich der chinesischen Grenze, durchgeführt. Bei früheren Atomversuchen hatte Nordkorea seinen einzigen offiziellen Verbündeten vorab gewarnt. Bislang deutet nichts darauf hin, dass das auch diesmal so war.

Sollte es keine Vorwarnung gegeben haben, wäre Chinas Führung sogar doppelt brüskiert. In der südchinesischen Hafenstadt Xiamen beginnt an diesem Sonntag der Gipfel der Brics-Staaten. Es handelt sich dabei um einen wichtigen politischen Termin, auf den die Regierung in Peking seit Monaten hingearbeitet hat und der mit den Präsidenten Russlands und Indiens, Wladimir Putin und Narendra Modi, hochrangig besetzt ist.

China und Indien hatten in den vergangenen Wochen einen ernsten Grenzstreit im Himalaya ausgetragen. Darüber wollte Chinas Staatschef Xi Jinping unter anderem mit seinem indischen Kollegen sprechen. Stattdessen stellt Nordkoreas Atomtest nun alle anderen Themen des Gipfels in den Schatten. Nordkorea ist nicht nur eine außenpolitische Bürde, die Chinas Verhältnis zu seinen Nachbarn und zu den USA vergiftet. Auch im Inneren steigt der Druck, dem langjährigen Verbündeten endlich Grenzen zu setzen.

Seit dem jüngsten Atomtest ergießt sich ein Schwall von Verwünschungen über Kim - in einer Sprache, die in Chinas zensiertem Internet höchst ungewöhnlich ist: "Wer befreit uns endlich von diesem giftigen Tumor?" fragt ein User namens Niu Tan Chuan Ren. "Ich bin in Jilin, und hier hat es so gewackelt. Bitte, schafft endlich einer dieses Tier aus dem Weg", schreibt WoAiChen KaFei. "Ich bin gespannt, wie China den Nordkoreanern diesmal wieder zu Hilfe kommt. Denen ist China völlig egal", so der User Xi Meng Chin.

Dass die USA, Japan und Südkorea Chinas Unterstützung von Kim in Frage stellen, mag für Peking eine diplomatische Belastung sein. Dass die Chinesen selbst beginnen, ihn zu fürchten und zu hassen, ist ein ungleich schwierigeres Problem. Am Sonntagnachmittag begann das Amt für Nukleare Sicherheit zu messen, welche Strahlungsschäden der Atomtest an der Grenze hinterlassen hat.

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