Notstand in Pakistan Die gespaltene Nation

Pakistans Präsident greift hart durch: Musharraf verhängt den Ausnahmezustand, feuert einen Richter, lässt Kritiker verhaften, besetzt Sender. Juristen und Journalisten sind entsetzt - aber denken auch die einfachen pakistanischen Menschen so? Der Riss durch die Gesellschaft geht tief.

Hamburg - Heute blieb es ruhig in Pakistan: auf den Straßen kaum Menschen, die Geschäfte geschlossen - bis auf die deutlich stärkere Polizisten- und Soldatenpräsenz. Viele Menschen bekamen erst im Laufe des Tages mit, als sie in die Sonntagszeitungen blickten, dass Staatschef Pervez Musharraf gestern den Ausnahmezustand über das Land verhängt hat. Dass er den Obersten Richter Iftikhar Mohammed Chaudhry, seinen mächtigsten Kritiker, suspendierte und die privaten Fernseh- und Radiosender besetzen und Oppositionspolitiker unter Hausarrest stellen ließ.

"In Pakistan gibt es seit 2002 private Radio- und Fernsehsender", sagte der pakistanische Journalist Nadim Siddiqi in Rawalpindi. "Die meisten Menschen nutzen die staatlichen Sender seither kaum noch." Da die Privatsender gestern aber abgeschaltet wurden, hätten viele Menschen vom Ausnahmezustand nichts mitbekommen. Nur in den Städten, wo Polizei und Soldaten im Einsatz waren, sei aufgefallen, dass etwas geschehen sei. "Heute, nachdem die Menschen die Zeitungen gelesen haben, liegt eine unheimliche Stille über dem Land."

Musharraf-Kritiker nutzten den ruhigen Tag, um den Widerstand zu organisieren. Hamid Ali Khan, angesehener Jurist des Landes und früherer Präsident der Anwaltschaft am Obersten Gerichtshof, rief zum landesweiten Streik auf. "Wir starten morgen unseren Kampf", sagte er in der Hauptstadt Islamabad. "Wir werden überall im Land Gerichtsverhandlungen boykottieren."

Journalisten wollen Protest organisieren

Auch Journalisten wollen Musharrafs Vorgehen nicht hinnehmen. Nadschib Ahmed, Direktor des Privatsenders Powerradio FM 99 mit Sitz in Islamabad, sagte, überall würden sich Journalisten treffen und diskutieren, was sie unternehmen wollen. "Nur noch Regierungssender sind auf Sendung, bei allen privaten herrscht erzwungene Funkstille. Wir wissen überhaupt nicht, was das soll", sagte er. "Unsere komplette Studioausrüstung wurde gestern konfisziert, ohne dass uns auch nur ein einziger Grund genannt wurde."

Ahmed ist überzeugt, dass Musharrafs Begründung, er wolle mit dem Ausnahmezustand der zunehmenden Gewalt durch Terroristen im Land begegnen, nur vorgeschoben ist. "Ich bin mir sicher, dass die Gewalt nach der für Januar geplanten Wahl abgenommen hätte. Nun, da sie auf unbestimmte Zeit verschoben ist, können wir wohl lange auf Demokratie warten."

Ahmed und die meisten seiner Kollegen glauben: In Wahrheit gehe es dem Militärdiktator nur darum, seine Macht zu sichern. "Der einzige Grund, dass Musharraf so hart durchgreift, ist die Angst vor der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs über die Rechtmäßigkeit seiner Wiederwahl zum Präsidenten im Oktober. Wahrscheinlich hätte das Gericht seine Macht beschnitten - das wollte Musharraf verhindern", sagte ein Journalist, der seinen Namen nicht genannt wissen will, zu SPIEGEL ONLINE.

Ein anderer erklärte: "Es liegt doch auf der Hand, dass es Musharraf nur um Machterhalt geht. Warum sonst hat er erst jetzt, drei Tage vor der geplanten Urteilsverkündung, den Notstand ausgerufen? Warum nicht schon vor sechs, neun oder zwölf Monaten?" Ob es jetzt, mit einem von Musharraf eingesetzten neuen Obersten Richter, zu einem Urteil komme, sei unwahrscheinlich. "Und wenn, dürfte es im Sinne Musharrafs sein."

Stimmen pro Musharraf wenig wahrgenommen

Musharraf hatte Richter Chaudhry schon im März unter dem Vorwurf des Amtsmissbrauchs abgesetzt, musste ihn aber im Juli nach heftigen Protesten im Land, einem dramatischen Ansehensverlust in der Bevölkerung und einem Beschluss des Obersten Gerichtshofs wieder einsetzen. "Richter Chaudhry hat das erste Mal in der Geschichte unseres Landes für eine unabhängige Justiz gesorgt", sagte der frühere Cricket-Star und jetzt unter Hausarrest gestellte Oppositionspolitiker Imran Khan kürzlich.

Doch während die - deutlich vernehmbaren - Stimmen unter Juristen, Journalisten und Menschenrechtsgruppen mehrheitlich gegen Musharraf sind, gibt es in Pakistan in weiten Teilen der Bevölkerung auch die hierzulande wenig wahrgenommene Überzeugung, eine Militärdiktatur sei das geringere Übel im Vergleich zu einer korrupten zivilen Regierung. Ein Politologe von der Universität in Lahore wies im Gespräch mit SPIEGEL ONLINE darauf hin, dass bei Wahlen in Pakistan möglicherweise auch islamische Extremisten gestärkt würden. "Das sollten all diejenigen, die immer nur Demokratie fordern, nicht vergessen."

Sijed Khawaja Alqama, Politikwissenschaftler an der Bahauddin Zakarija Universität in Multan, sagte: "Man muss erkennen, dass Pakistan zwar demokratische Werte durchaus kennt, dass aber unsere Gesellschaft keine demokratische ist. Ob es nun Wahlen gibt oder nicht - welchen Unterschied macht das?" Politisch würde sich das Land derzeit ohnehin so entwickeln, wie die USA es wollen. Pakistan sei schließlich ein strategisch extrem wichtiger Partner.

Washington sieht in dem General einen Garanten für eine Kooperation im Kampf gegen Terroristen. Die USA unterstützen ihn deshalb militärisch, politisch und finanziell. Die US-Regierung weiß aber auch, dass sie nicht dauerhaft einen Militärdiktator stützen kann, wenn sie sich zugleich glaubwürdig als Missionarin der Demokratie präsentieren will. Daher fördert sie nun auch die frühere Premierministerin Benazir Bhutto, die mit Musharraf zusammenarbeiten und für Demokratie in Pakistan sorgen soll. Die US-Regierung ist sich zudem bewusst, dass Pakistan schnell ohne Musharraf dastehen könnte; Islamisten trachten ihm wegen seiner Partnerschaft mit dem Westen nach dem Leben, mehrfach entging er einem Anschlag nur knapp.

Mit demokratisch gewählten Regierungen haben die Menschen in Pakistan seit der Staatsgründung vor 60 Jahren selten gute Erfahrungen gemacht. Zivile Regierungen waren meist korrupter als Militärführungen. Musharraf ist der vierte General, der an der Spitze des Landes steht. "So schlecht ist er nicht", sagte Jamshed Qureshi, Rikschafahrer in Karatschi, über den Diktator. Sein Urteil über Bhutto, die nach acht Jahren aus dem Exil zurückgekehrt ist und Pakistan zur Demokratie machen will: "Sie ist eine elende Hündin. Man sollte Bhutto zum Teufel jagen."

Wirtschaftswachstum verdeckt demokratische Mängel

Zweimal war die Politikerin von der Pakistanischen Volkspartei (PPP) an der Regierungsspitze, ebenso wie ihr damaliger Konkurrent Nawaz Sharif von der Muslim-Liga, den Musharraf 1999 stürzte. Bhuttos Ehemann Asif Ali Zardari ist vielen Menschen als "Mister Ten Percent" in Erinnerung: Diesen Anteil soll er sich regelmäßig bei staatlichen Aufträgen in die eigene Tasche abgezweigt haben. "Wollen wir wirklich, dass solche Leute uns regieren?", fragt Qureshi.

Ein Grund für die Beliebtheit Musharrafs bei vielen Menschen - trotz seiner immer wieder gebrochenen Versprechen von mehr Demokratie - dürfte die wirtschaftliche Entwicklung des Landes sein. Unter Musharraf hat sich die pakistanische Wirtschaft so rasant entwickelt wie seit der Staatsgründung nicht: Sie wächst jährlich um rund sieben Prozent. Ökonomen registrieren einen Konsum- und Bauboom, die pakistanischen Aktienmärkte entwickeln sich prächtig, in Großstädten entstehen Einkaufszentren mit schicken Restaurants und den üblichen Markengeschäften: Nike-Turnschuhe, Levi's-Jeans und iPod kann man inzwischen auch in Karatschi, Islamabad oder Lahore kaufen.

Den städtischen, westlich orientierten Pakistanern gefällt zudem Musharrafs Vorgehen gegen Islamisten. "Er ist ein Präsident, der nicht auf diese bärtigen Affen hört", sagte Qureshi.

Ahmed Rashid, einer der bekanntesten Journalisten des Landes, ist dennoch überzeugt, dass Musharraf gestern die meisten seiner Anhänger verloren hat. "Was er gemacht hat, ist nicht nur ein Angriff auf die Demokratie. Es ist eine Attacke auf die Zivilbevölkerung, ein politisches Desaster. Schließlich hat er nicht Islamisten, sondern demokratische Oppositionspolitiker, Journalisten und Juristen ins Gefängnis geworfen", sagte er. Kein General in Pakistan habe es je geschafft, ohne die Zustimmung der Bevölkerung an der Macht zu bleiben.

In den kommenden Tagen, sagt Politologe Alqama, wird sich zeigen, wohin sich die Atommacht Pakistan entwickelt. Vielleicht, sagt er, überwindet das Land in der Krise seine Brüche. Andernfalls könnte es ungemütlich werden.

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