"Guardian"-Chef Rusbridger "Die Regierung wollte die Polizei zu uns schicken"

"Guardian"-Verlagshaus: "Es wäre naiv zu glauben, wir würden das unseren Lesern vorenthalten."
Foto: Peter Macdiarmid/ Getty ImagesSPIEGEL ONLINE: Was war Ihre erste Reaktion, als die Regierung Sie bat, Festplatten mit Informationen zu zerstören?
Rusbridger: Es gab Vorgespräche mit Mitarbeitern der Regierung, die zunächst sehr freundlich verliefen. Dann aber änderten sich der Tonfall und die Haltung, ich weiß nicht warum, aber es hieß, man werde juristische Schritte einleiten. Da ich so etwas kommen sah, hatten wir längst Vorbereitungen getroffen und einen Teil der Recherche von London in die USA verlegt. Ich habe versucht, meine Gesprächspartner zu überzeugen, dass das, was sie verlangten, völlig sinnlos sei. Deshalb stimmte ich zu, das Material in London zu zerstören.
SPIEGEL ONLINE: Sowohl der Geheimdienst als auch die Regierung mussten davon ausgehen, dass diese Aktion öffentlich wird.
Rusbridger: Ja, es wäre naiv zu glauben, wir würden das unseren Lesern vorenthalten.
SPIEGEL ONLINE: Warum haben Sie den Vorfall jetzt erst beschrieben?
Rusbridger: Es gab erstens redaktionsinterne Gründe, über die ich nicht sprechen kann. Zweitens waren wir in der leicht bizarren Situation, dass das Gespräch mit der Regierung harmlos angefangen hatte. Es begann als eine Art Diskussion, ohne Drohungen, und wir hatten zunächst zugestimmt, das alles für uns zu behalten. Ich dachte, es wäre hilfreich für beide Seiten, einen Kommunikationskanal offen zu haben, so dass niemand auf die Idee kam, die Polizei zu uns zu schicken oder juristische Schritte einzuleiten. Wir hielten uns also an die Vereinbarung, das Thema off the record zu behandeln. Und weil wir nicht am selben Tag darüber berichtet haben, wäre es seltsam gewesen, drei Tage oder später eine Story daraus zu machen.
SPIEGEL ONLINE: Was glauben Sie waren die Motive des Geheimdienstes, den Kontakt zu suchen?
Rusbridger: Ich nehme an, dass es verschiedene Fraktionen in der Regierung gab. Manche befürworteten einen konfrontativen Ansatz und wollten die Polizei zu uns schicken. Andere wiederum sagten, das sei kontraproduktiv und hielten es für besser, ein Gespräch zu führen. Vermutlich haben am Ende die Hardliner gewonnen.
"Die Briten wirken in dieser Angelegenheit ein bisschen selbstgefällig"
SPIEGEL ONLINE: Es gab Diskussionen, die Polizei in die Redaktion zu schicken?
Rusbridger: Wie ich höre, ja. Das kam schon anderswo vor, zum Beispiel während des Telefon-Abhörskandals bei der "Sun" - natürlich aus völlig anderen Gründen.
SPIEGEL ONLINE: In Ihrem Fall bestand offenbar die Befürchtung, dass das Snowden-Material in der Redaktion Hackern in die Hände fällt.
Rusbridger: Man sagte mir, dass diese Furcht besteht, aber ob das stimmt, weiß ich nicht. Man muss sagen, dass sich meine Gesprächspartner nicht wirklich konsistent verhalten haben. Mal war die ganze Angelegenheit sehr, sehr wichtig, dann plötzlich wieder weniger dringend.
SPIEGEL ONLINE: Sind Sie zufrieden mit den Folgen der Berichterstattung?
Rusbridger: Ich denke, die Debatte lief viel besser in den Vereinigten Staaten und Teilen von Europa als bei uns in Großbritannien. Die Briten wirken in dieser Angelegenheit ein bisschen selbstgefällig.
SPIEGEL ONLINE: In England steht der "Guardian" recht allein da, was die Aufregung über die Macht der Geheimdienste betrifft.
Rusbridger: Das war auch beim Telefon-Abhörskandal so, den wir aufgedeckt haben. Außerdem muss man digital denken, um das Wesen der aktuellen Bedrohung zu verstehen. Der Engländer liebt sein Heim, es ist sein Schloss, die meisten Leser des "Daily Telegraph" und der "Daily Mail" sehen das so. Diese Menschen können sich niemals vorstellen, dass die Polizei ungefragt durch ihre Haustür kommt. Was sie nicht verstehen: Die Polizei könnte längst in ihren Häusern sein, sie braucht dazu die Tür gar nicht mehr.
SPIEGEL ONLINE: Nicht nur Journalisten, auch die Opposition befasst sich kaum mit der Spähaffäre.
Rusbridger: Es gab fast keine Debatte in Westminster, kaum ein Abgeordneter hat sich dazu geäußert. Die Liberalen sind dadurch gehemmt, dass sie mit den Konservativen in der Regierung sitzen, und die Labour Party hat keine sehr glorreiche Vergangenheit im Kampf um Zivilrechte. Allerdings mehren sich die kritischen Stimmen bei den Tories. Zwei Abgeordnete sind aktiv geworden, es werden Parallelen zu Damian Green gezogen, einem Tory-Abgeordneten, den die Polizei 2008 festgenommen hat. Vielleicht sind die Hinterbänkler der Tories schneller als Labour.
SPIEGEL ONLINE: Hilft es der Debatte, wenn Glenn Greenwald jetzt offenbar an Großbritannien Rache nehmen will?
Rusbridger: Ich glaube nicht, dass er so etwas gesagt hat oder plant. Glenn war bislang äußerst vorsichtig mit dem, was er geschrieben hat. Wir werden in den nächsten Wochen vor allem mehr erfahren, was die Beziehung zwischen Regierungen, Geheimdiensten und den großen Internet- und Technologiefirmen angeht.