Obama in New York Balanceakt am Nullpunkt des Terrors
Sie schütteln ihm die Hand. Sie umarmen ihn. Sie drücken ihn, klopfen ihm auf die Schulter, reiben ihm den Rücken, streicheln seinen Anzug. Viele lachen, irgendwie befreit. Ein paar verdrücken still eine Träne. "Sir", murmelt ihm ein Polizist zu, "das ist ein ganz guter Anfang."
Jedes Detail ist sorgfältig choreografiert, als US-Präsident Barack Obama Ground Zero besucht. Es ist eine Zeremonie, bei der jeder Schritt, jedes Wort, jeder Ton stimmen muss. Doch am Ende sind es diese kleinen, spontanen Dinge, die am meisten bewegen.
Allen voran die Hinterbliebenen der Opfer des 11. September 2001. Für sie bedeutet diese Visite wohl mehr als für alle anderen. Rund 60 Angehörige hat das Weiße Haus eingeladen.
Ihre Reaktionen sagen mehr als alle Worte: Einer nach dem anderen nimmt kurz von Obama Besitz. Als sei er jetzt einer der Ihren.
Spätestens da wird klar: Dies ist der Moment, der Obamas Amtszeit auf lange Sicht prägen wird. Vorgänger George W. Bush stieg nach 9/11 auf einen noch kokelnden Trümmerhaufen an Ground Zero, Megafon in der Hand, und eröffnete die Jagd auf Osama Bin Laden.
Perfekte Inszenierung an Ground Zero

Neuneinhalb Jahre später kehrt Obama an die gleiche Stelle zurück und überbringt den 9/11-Familien persönlich die Nachricht vom Ende Bin Ladens. Es sind unschlagbare Bilder: emotional, symbolkräftig, perfekt inszeniert.
Die Sonne strahlt, eine steife Brise weht, genau wie damals, bevor die Jets einschlugen. Herausgeputzt in Sommerkleidern, Anzügen, Gardeuniformen und weißen Handschuhen stehen sie am Rande des halbfertigen 9/11-Memorials, im Herzen des Terrors von einst. Seit Jahren pilgern sie hierher, um zu weinen und zu trauern. Doch diesmal ist alles anders.
Payton Wall, 14, verlor an 9/11 ihren Vater Glen James Wall, Vizepräsident der Wall-Street-Firma Cantor Fitzgerald. Sie schrieb einen Brief an den Präsidenten, der zufällig am Montag - dem Tag nach dem Tod Osama Bin Ladens - auf dessen Schreibtisch landete. Obama bat Payton, ihre Mutter, ihre Schwester und eine Freundin, die ebenfalls ihren Vater betrauert, sofort zur Feier nach Ground Zero. Payton ist die Erste, die Obama umarmt. Sie flüstert ihm ins Ohr, er flüstert zurück. Sie lacht und streicht sich das Haar aus der Stirn.
Kurz zuvor hat Obama einen Kranz in den US-Nationalfarben abgelegt. Weiße Gardenien, blaue Hortensien, rote Rosen. Das Gesteck stammt von Flowers of the World, das 2001 einen Laden im World Trade Center hatte.
Der Kranz hängt an einem Holzgerüst neben dem Survivor Tree, dem Überlebensbaum. Diese Eiche, 1971 gepflanzt, war damals unter den Trümmern fast verendet, wurde aber wieder hochgepäppelt und ragt heute mehr als zehn Meter hoch. Metaphern allerorten.
"Viele Familien sind am Boden zerstört, dass sie übergangen wurden"
Über der Szene erhebt sich der Rohbau von One World Trade Center, vormals "Freedom Tower": 64 Stockwerke, 16 davon schon verglast. 104 Etagen sollen es werden, mit der symbolischen Höhe von 1776 Fuß (541 Meter), analog zum Gründungsjahr der USA. "Dies ist nicht länger 'The Pit', die Grube", sagt Chris Ward, der Direktor der Hafenbehörde Port Authority, der das 6,5-Hektar-Areal gehört.
Nach der Kranzniederlegung verschränkt Obama die Hände, schließt die Augen und beugt das Haupt. Eine Minute steht er so da, schweigend, die Stirn gerunzelt, in sich versunken. Nur das Klicken der Kameras ist zu hören, ansonsten liegt Ground Zero still.
Schließlich öffnet er die Augen wieder, sagt leise "Alright" und beginnt, Hände zu schütteln. "Ist das deine Mutter?", fragt er ein Mädchen, das ein Foto trägt. "Du siehst ihr sehr ähnlich."
Es ist ein sensibler Vorgang, der freilich nicht allen schmeckt. Manche Hinterbliebene wurden erst im letzten Moment eingeladen, andere gar nicht, aus Zeit- und Platzgründen. "Viele Familien sind am Boden zerstört, dass sie übergangen wurden", schreibt Elise Cooper vom konservativen Blog "American Thinker".
Debra Burlingame, eine der profiliertesten Opfer-Advokaten, ist zu einer separaten Zeremonie am Pentagon eingeladen, bei der Vizepräsident Joe Biden einen Kranz niederlegt. "Unsere Anwesenheit ist nur Requisite", schimpft sie. "Wenn sie wirklich etwas für die Familien tun wollen, sollten sie alle respektieren." Burlingames Bruder Charles war der Pilot des American-Airlines-Flugs 77, den die Terroristen ins Pentagon jagten. Es sind unvermeidliche Reibereien. Doch der Ärger verhallt im stillen Drama der Zeremonie, verblasst gegenüber der Dankbarkeit vieler 9/11-Familien.
"Ich bin ekstatisch, dass er Bin Laden gekriegt hat", sagt Bill Dolye, dessen Sohn Joseph an 9/11 starb. "Es war eine mutige Entscheidung."
"Ich will ihm nur in die Augen schauen und danken", sagt Charles Wolf, der seine Frau Katherine verlor, auf CNN. Als er vom Tod Bin Ladens erfahren habe, seien seine ersten Gedanken gewesen: "Endlich haben sie den Hundesohn erwischt." Besser tot als lebendig.
"Bittersüß", schlagzeilt die "New York Post", das konservative Hausblatt des Medienmoguls Rupert Murdoch, an diesem Morgen auf ihrer Titelseite über einem Bild des alten World Trade Centers. Die "Daily News" begrüßt Obama mit einem Foto Bin Ladens.
Obama will helfen, ein Gefühl des Friedens zu erreichen
Obamas Tag in Manhattan beginnt kurz nach 11 Uhr Ortszeit, als sein Helikopter am Ende der Wall Street landet. Dort wird er von Ex-Bürgermeister Rudy Giuliani begrüßt, der sein entschlossenes Auftreten an 9/11 später in eine - kurzlebige - Präsidentschaftskandidatur ummünzte. Dann schließt sich Giulianis Nachfolger Michael Bloomberg dem Obama-Tross an. Viele Straßen sind von Schaulustigen gesäumt. Sie warten, winken, einige wedeln mit Flaggen.
Zuvor hat Obamas Sprecher Jay Carney an Bord des Regierungsjumbos Air Force One noch mal die Sprachregelung ausgegeben: Obama komme, "um den furchtbaren Verlust anzuerkennen, den New York an 9/11 erlitten hat". Auch hoffe der Präsident, "den New Yorkern und Amerikanern überall vielleicht zu helfen, ein Gefühl des Friedens zu erreichen".
Vom East River rollt Obamas Wagenkolonne ins Theaterviertel. Dort haben ihm die Männer der Feuerwache 54 an der Eighth Avenue Lunch angerichtet. Auberginen, Nudeln, Muscheln, Shrimps, sonnengetrocknete Tomaten. Die "Pride of Midtown", wie diese Station auch heißt, verlor bei den Anschlägen 15 Leute, mehr als sonst eine Wache. Es war die komplette Morgenschicht jenes Tages.
Über dem modernen Bau weht das Sternenbanner, auf einer Plakette ist "343" eingraviert - die Zahl aller an 9/11 getöteten Feuerwehrleute. Ein Dutzend Männer in blauen Uniformen erwartet den Präsidenten, darunter der New Yorker Feuerwehrchef Salvatore Cassano, der seine "extreme Wertschätzung" für Obama bekundet. Obama schüttelt jedem die Hand, lädt sie alle ins Weiße Haus ein.
Nach der Zeremonie fand ein privates Treffen mit 9/11-Familien statt
"Ich wollte euch danken", sagt er und lobt "die außerordentlichen Opfer", die an 9/11 gebracht worden seien. "Ich kann die Freunde, die ihr verloren habt, nicht zurückbringen." Doch die Ereignisse vom Sonntag hätten bewiesen: "Wenn wir sagen, dass wir nie vergessen werden, dann meinen wir das auch so."
Die Männer applaudieren. "Gott schütze euch", verabschiedet sich Obama von ihnen. "Gott schütze die Vereinigten Staaten von Amerika."
Er fährt weiter ins Viertel Tribeca in Lower Manhattan, zum First Precinct, der Wache Nummer eins des New York Police Departments (NYPD) eine Meile nördlich von Ground Zero. Shaun McGill, einer der jüngsten Cops dieser Wache, rannte an 9/11 in den brennenden Südturm, um noch Menschen zu retten. Er wurde unter den Trümmern begraben, doch er überlebte.
Obama lässt sich von den Beamten eine Vitrine zeigen, die an die Anschläge erinnert. Er signiert das Logbuch der Wache und schreibt "God Bless". "Ich bin hier", sagt er ihnen, "um euch die Hand zu schütteln und euch zu sagen, wie stolz ich auf euch alle bin."
Nach der Zeremonie an Ground Zero wird Obama in ein Ladengeschäft geschleust. "9/11 Memorial Preview Site" steht über der Tür, drinnen sind Modelle der Neubebauung von Ground Zero zu sehen - und Filme vom Tag des Terrors. Das Weiße Haus hat diesen Ort für ein "privates Treffen" mit 9/11-Familien gewählt. Das findet, anders als alles andere an diesem Tag, hinter verschlossenen Türen statt.