Obamas Auschwitz-Verwechslung Wie ein peinlicher Patzer zur Staatsaffäre wurde
New York - Es war einer dieser typischen Wahlkampfauftritte. Rund 200 geladene Gäste hatten sich am Montag vor dem "Farm and Ranch Heritage Museum" in Las Cruces versammelt, einem staubigen Ort im Süden New Mexicos. Barack Obama stand in der prallen Sonne am Pult und hielt eine ernste Rede zum Memorial Day - jenem Tag, an dem die Nation ihrer gefallenen Soldaten gedenkt.
Obama sprach von "Amerikas Söhnen und Töchtern", die sich "für uns opfern", er sprach von seinem Großvater, der "in Pattons Armee marschierte", und davon, dass "die, die wir verloren haben, von einer dankbaren Nation in Erinnerung behalten werden". Anschließend griff er sich das Mikrofon, wanderte auf und ab und beantwortete die Fragen des Publikums.
Ein Mann, der sich als Vietnam-Veteran zu erkennen gab, erzählte ihm mit brechender Stimme von den Spätfolgen des Krieges, die er auch an seinen vier Neffen sehe, "die drüben im Irak sind". Obama versprach ihm, sich besser um die Versorgung traumakranker Krieger zu kümmern als die jetzige Regierung.
Und dann erzählte er eine seiner leidigen, lang gewundenen Obama-Anekdoten."Ich hatte einen Onkel, der einer derjenigen ( ) unter den ersten amerikanischen Truppen war, die in Auschwitz eindrangen und die Konzentrationslager befreit haben, und die Geschichte in unserer Familie geht, dass er, als er heimkehrte, einfach nur auf den Speicher ging und das Haus für sechs Monate nicht verließ", sagte Obama, die linke Hand lässig in der Hosentasche. "Nun, offenbar hatte ihn irgendetwas wirklich tief berührt, aber zu jener Zeit gab es diese Art von Einrichtungen nicht, die jemandem helfen, diese Art von Leid zu verarbeiten." Niemand im Publikum muckte auf, und nach weiteren gut 20 Minuten ging die Veranstaltung ohne Auffälligkeiten zu Ende.
Kaum jemand schien zu dem Zeitpunkt bemerkt zu haben, dass sich "Obamas Auschwitz-Moment" ("Washington Post") bald zu einem Sturm im Wasserglas entwickeln würde - und ihn womöglich noch bis in den Herbst verfolgen könnte.
Denn es gab mehrere Probleme mit Obamas Story. Erstens wurde Auschwitz natürlich nicht von den Amerikanern befreit, sondern von der Roten Armee. Und zweitens war Obamas Mutter ein Einzelkind, während der Bruder seines Vaters lange nach dem Krieg geboren wurde - in Kenia. Oder, wie die republikanische Parteispitze genüsslich resümierte: "Oops."
Obama hatte freilich weder "gelogen", wie es rechte Blogger später hysterisch anprangerten, noch maßlos übertrieben. Sondern seine Familiengeschichte und die Kriegsgeschichte heillos - und blamabel - durcheinandergebracht.
Er sprach nämlich von seinem Großonkel Charlie Payne. Der Onkel seiner weißen Mutter kämpfte in der 89th Infantry Division, 355th Infantry Regiment, Company K - jenes Regiment, das am 4. April 1945 nicht Auschwitz, sondern das Zwangsarbeitslager Ohrdruf in Thüringen befreite, eine Außenstelle des KZ Buchenwald. Die 89th war die erste US-Einheit, die auf ein NS-Lager stieß, und wird im Holocaust Museum in Washington heute mit einer eigenen Sektion gewürdigt. Die Sowjets erreichten Auschwitz bereits im Januar 1945.
Nur die "Washington Post" und CBS News berichteten noch abends von Obamas angeblicher Auschwitz-Connection. Doch beide ohne Wortlaut - und ohne die Fehler zu bemerken, geschweige denn zu korrigieren.
Erst als auf der "Post"-Website ein virtueller Proteststurm von Lesern losbrach, bat die Zeitung ihren Reporter um einen Mitschnitt. Der landete sofort auch auf YouTube - und beim Republican National Committee (RNC).
Die republikanische Parteispitze verlor keine Zeit, den Patzer zur Staatsaffäre aufzublasen. "Obamas dubiose Behauptung", donnerte RNC-Sprecher Alex Conant, "widerspricht der Weltgeschichte und erfordert eine Erklärung". Die kam einen Tag darauf vom Obama-Camp, inzwischen in Las Vegas. Sprecher Bill Burton räumte ein, sein Chef habe sich "versehentlich" auf Auschwitz statt Buchenwald berufen, um seinen Stolz auf seine Vorfahren zu illustrieren - "vor allem den Umstand, dass sein Großonkel an der Befreiung eines der Konzentrationslager bei Buchenwald teilgenommen hat".
Aber auch das war schon wieder ein Patzer: Ohrdruf - das kurz darauf von den US-Generälen George Patton und Dwight Eisenhower besichtigt wurde - war ein Arbeitslager. Auch wenn dort Tausende ums Leben kamen, nicht zuletzt beim Todesmarsch nach Buchenwald zwei Tage vor der Befreiung.
Es ist nicht der erste verbale Patzer Obamas - aber auch Clinton und McCain haben schon vorgelegt
Es war beileibe nicht der erste Fehler Obamas - oder seiner Gegenkandidaten. Dieser lange, bittere Vorwahlkampf war fast täglich von Patzern, Schönfärbereien, Irreführungen, Vereinfachungen und historischen Plattheiten geprägt. Und die fallen langsam immer krasser aus - je gestresster vor allem die Demokraten sind. "Es wird spät", hat die "Washington Post" beobachtet. "Die Kandidaten sind erschöpft und neigen zu dämlichen Fehlern."
So hat Obama behauptet, dass er 57 US-Bundesstaaten bereist habe (es gibt 50). Dass sich seine Eltern beim Bürgerrechtsmarsch von Selma 1965 kennengelernt hätten (Obama wurde 1961 geboren). Und dass er als Kind fließend Indonesisch gesprochen habe (was eine seiner Lehrerinnen bestritten hat).
Nach Obamas Auschwitz-Ausrutscher publizierten die Republikaner triumphierend eine Liste mit den "häufigen Übertreibungen" des Demokraten, die "sein Urteilsvermögen und seine Eignung als Oberkommandierender" in Frage stellten. Ein pikanter Vorwurf - ausgerechnet in der selben Woche, da Scott McClellan, der frühere Pressesprecher des Weißen Hauses, in seinen Memoiren eine "Kultur der Täuschung" im Weißen Haus beschreibt und Präsident George W. Bush der "Propagandakampagnen" beschuldigt.
Auch der Republikaner-Kandidat John McCain sitzt diesbezüglich im Glashaus. Der nennt seinen Wahlkampfbus zwar "Straight-Talk Express", den Klartextexpress. Doch auch McCain hat sich da schon so manchen Schnitzer geleistet. So dozierte er neulich über die Lage im Irak: "Es gibt keine Chronik gewaltsamer Auseinandersetzungen zwischen Sunnis und Schiiten. Ich denke also, dass sie sich wahrscheinlich vertragen können."
Längst Wahlkampflegende ist McCains Besuch in Bagdad vor einem Jahr - später prahlte der Republikaner, er habe über einen Markt spazieren können, so friedlich sei es dort. In Wahrheit wurde McCain, wie NBC enthüllte, von "100 amerikanischen Soldaten mit drei Blackhawk-Helikoptern und zwei Apache-Kampfhubschraubern" bewacht. Und er trug eine kugelsichere Weste.
Anlässlich eines kürzlichen Besuchs in Jordanien warf McCain Iran vor, al-Qaida-Kämpfer auszubilden - bis ihm sein Reisebegleiter, Senator Joe Lieberman, zuflüsterte, er möge da lieber "Extremisten" sagen statt "al-Qaida". Überhaupt verkürzt McCain die Splittergruppe "al-Qaida in Mesopotamien", die sich erst nach dem US-Einmarsch bildete, gerne zu "al-Qaida", was den Irak mit dem 11. September assoziiert.
Auch Hillary Clinton neigt, mit zunehmendem Adrenalinverbrauch, zu gewagten Ausschmückungen ihrer Reden, und auch sie ist über die Geschichte gestolpert - ihre eigene, in diesem Fall. Mehrmals untermalte sie ihre militärische Härte mit einer dramatischen Anekdote: Bei einem Besuch in Bosnien als First Lady 1996 sei sie mit Tochter Chelsea unter Scharfschützenbeschuss geraten. Leider war das nicht wahr - bei dem friedlichen Empfang wurde Clinton mit Blumen begrüßt.
Auch jüngste Behauptungen, mit der sie ihren weiteren Anspruch auf die Kandidatur rechtfertigt, gehören eher in die Rubrik "eigennützige Phantasie". O-Ton Hillary Clinton: "Aufgrund von jeder Analyse, jeder noch so kleinen Untersuchung und jeder Umfrage, die getätigt wurde in jedem Staat, den ein Demokrat gewinnen muss, bin ich der stärkere Kandidat gegen McCain im Herbst."
Kein Wunder also, dass weder Clinton noch McCain sich zu Obamas Auschwitz-Episode äußerten. Nur die rechten Blogs und die TV-Talker hauten auf den Putz, in der Hoffnung, Obama Fehlbarkeit anhängen zu können. "Obama lügt über den Holocaust, um sich politisch zu bereichern", schrieb der Blog "Red State" und nannte das "abscheulich." Der "Daily Standard" fragte: "Wie klug ist Obama?" Und gab sich gleich selbst die Antwort: "Nicht klug genug."
Eine tolle Tirade kam auch von Karl Rove, dem Ex-Chefstrategen Bushs. Der Mann, der den Präsidenten sechs Wochen nach dem Irak-Einmarsch 2003 vor dem Banner "Mission erfüllt" auftreten ließ, mokierte sich im "Wall Street Journal" doch tatsächlich über "Obamas revisionistische Geschichte".
Und doch, ein kleiner Makel wird wohl an Obama hängen bleiben - zumal er sich selbst gerne über Bushs historische Ignoranz mokiert. "Viele Amerikaner dürften Probleme haben, Buchenwald und Ohrdruf von Auschwitz zu unterscheiden", schreibt der Blogger Michael Dobbs. "Doch sollten wir von einem Harvard-geschulten Präsidentschaftskandidaten nicht mehr erwarten? Ist das zu viel verlangt?"