
Sturm auf Polizeizentrale von Odessa "Du bist ein toter Mann"
Am Nachmittag biegt ein Zug von Demonstranten ein in die Preobraschenskij-Straße von Odessa, viele tragen das schwarz-orangene Georgsband am Revers. Es erinnert an den Sieg der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg und ist zum Erkennungszeichen geworden für die prorussischen Separatisten in der Ukraine.
Die Kolonne stoppt vor den Toren der Polizeizentrale, über den Köpfen flattern schwarz-gelb-weiße Banner, die Fahne des russischen Zarenimperiums. Andere tragen die Flagge der Stadt Odessa. Die Demonstranten skandieren "Russland, Russland".
Hinter dem Tor der Polizeistation liegt ein Untersuchungsgefängnis, hier sitzen mehrere Dutzend pro-russische Aktivisten in Haft. Die Polizei hat sie festgenommen nach den Ausschreitungen vom Freitag. Die Demonstranten fordern ihre Freilassung. Sie brechen das Tor zur Polizeiwache auf und strömen in den Innenhof. Fensterscheiben gehen zu Bruch. Aus einem Mannschaftswagen der Polizei entwendet die Menge Polizeiuniformen, Schilde, Helme.
Dann gerät ein Journalist zwischen die Fronten. Der TV-Korrespondent wird bedrängt und geschlagen. Die Menge hat ihn als Reporter des "Ersten Stadtkanals" identifiziert, der lokale Sender berichtet seit Tagen über die Ausschreitungen und hat dabei auch Anführer der "Selbstverteidigung des Maidan" zu Wort kommen lassen, der Revolutionsgarde, die sich am Freitag Straßenschlachten mit prorussischen Kräften lieferte.
Die Polizei greift nicht ein
Den Demonstranten an der Polizeiwache gilt er deshalb als Feind. Der TV-Reporter trägt eine Platzwunde an der Schläfe und eine Verletzung am Auge davon, eine Journalistin stellt sich schützend vor ihn, auch sie wird geschlagen. Ein Demonstrant drängt herbei und versetzt dem verletzten Reporter einen Schlag. "Du bist ein toter Mann", ruft er.
Ukrainische Reporter eilen hinzu, sie bilden einen Kreis um den verletzten Korrespondenten und bringen ihn aus der Gefahrenzone. Die Polizei greift nicht ein. Im Gegenteil: Vor dem Gebäude steht zwar eine Hundertschaft, Beamten mit rotem Barett, aber die Einheit zieht ab.
Im Innenhof fügt sich die Besatzung des Untersuchungsgefängnisses widerstandslos den Forderungen der Angreifer: Die Zellen werden geöffnet, die inhaftierten Aktivisten kommen frei, rund 30 sollen es nach Angaben ukrainischer Medien insgesamt sein.
Die Gefangenenbefreiung ist ein weiterer Nackenschlag für die Zentralregierung in Kiew. Sie hat den Chef der Polizei nach den blutigen Unruhen vom Freitag ausgetauscht, um wieder Herr der Lage zu werden. Gebracht hat es nichts. Der neue Polizeichef der Stadt steht im Innenhof der gestürmten Zentrale, Dmitrij Futschedschi ist keine zwei Tage im Amt und zuckt die Schultern. "Kein Kommentar", sagt er.
Übergangspremier Arsenij Jazenjuk war eigens nach Odessa geeilt. Er wollte der Opfer der Ausschreitungen am Freitag gedenken, auch der vielen Opfer unter prorussischen Aktivisten, die beim Brand des Gewerkschaftshauses ums Leben kamen.
Jazenjuk gibt Moskau die Schuld
Nun muss der Regierungschef vor Ort ansehen, wie in Odessa die Staatsmacht zu kollabieren droht, ähnlich wie zuvor in Donezk und anderen Städten im Osten. Jazenjuk macht Russland für die Unruhen verantwortlich, er sprach von einem "organisierten Angriff auf das Volk". Moskau habe "Leute hierher geschickt, um für Chaos zu sorgen".
Die Menschenmenge aber, die vor der Polizeizentrale die Freigelassenen feierte, hat nicht der Kreml entsandt. Mit "Ihr-seid-Helden"-Sprechchören ließen die Demonstranten die Aktivisten hochleben.
Mit dem Sturm auf das Polizeigefängnis hat sich die Hoffnung zerschlagen, dass sich die Lage in Odessa nach den Unruhen schnell wieder beruhigt. Am Freitag waren mehr als 40 Menschen bei Straßenschlachten und im in Brand gesetzten Gewerkschaftshaus ums Leben gekommen.
Zu den Auseinandersetzungen war es gekommen, als prorussische Aktivisten einen Demonstrationszug von Anhängern der Übergangsregierung angriffen. Die Anhänger der Maidan-Revolution wurden verstärkt von nationalistisch gesinnten Fußball-Fans und laut Zeugenaussagen auch von mehreren hundert Aktivisten der sogenannten "Selbstverteidungskräfte" des Maidan.
Knüppel, Molotow-Cocktails, frisierte Gaspistolen und Schusswaffen wurden offenbar von beiden Seiten eingesetzt. Die Anhänger der Übergangsregierung schlugen die Attacke der prorussischen Kräfte zurück und stürmten dann das Gewerkschaftshaus.
"Den Faschisten eine würdige Antwort geben"
Unklar ist, was genau den Brand auslöste. Ukrainische Medien berichten von einem Brandherd in der dritten Etage, hinter einem intakten Fenster. Möglicherweise breitete sich das Feuer aus, als die Verteidiger des Hauses selbst Molotow-Cocktails fertigten.
Mitglieder eines Karate-Clubs aus Odessa berichten, dass beide Seiten Brandsätze aufeinander schleuderten. Die Sportler retteten mehrere prorussische Aktivisten aus dem brennenden Gebäude. "Gleichzeitig haben die Idioten neben uns Molotow-Cocktails in die Nachbarfenster geworfen", berichtet einer.
Am Sonntag strömten Tausende Bürger zu dem ausgebrannten Gewerkschaftshaus. Sie legten Blumen nieder und gedachten der Opfer. Viele hatten Tränen in den Augen, manche schworen Rache. Als ein Polizist die Ruine inspizierte, brüllte ihn ein Mann an, er werde ihm "den Kopf abschneiden, weil du das hier nicht verhindert hast".
Die Krankenschwester Lisa aus Odessa hat Nelken mitgebracht, um die Toten zu ehren. Ihren Zorn aber kann sie kaum verbergen. "Heute trauern wir", sagt sie. "Aber morgen schon werden wir den Faschisten eine würdige Antwort geben".