Osteuropa-Experte Segbers zum Georgien-Krieg "Saakaschwili hat sich verkalkuliert"
SPIEGEL ONLINE: Warum hat sich Georgiens Präsident Saakaschwili plötzlich zur militärischen Eskalation wegen Südossetien hinreißen lassen?
Klaus Segbers: Das ist von außen sehr schwer zu beurteilen. Klar ist, dass es schon vor zehn Tagen in der Region Scharmützel gab. Dass die Sache jetzt eskaliert ist, hat sicher mit drei Dingen zu tun: Weil die Welt im Moment auf die Olympischen Spiele schaut. Weil die amerikanischen Politiker absorbiert sind mit Wahlkampf, Irak, Afghanistan etc. Und weil die Europäische Union mit ihrem ungelösten Vertragsproblem auch genug zu tun hat.
SPIEGEL ONLINE: Aber ob mit oder ohne Weltöffentlichkeit - Saakaschwili wird doch nicht ernsthaft geglaubt haben, es mit dem Giganten Russland aufnehmen zu können.
Segbers: Wohl kaum. Aber wir haben es hier mit Akteuren zu tun, die nicht immer so können, wie sie wollen, weil sie mit erheblichen innenpolitischen Zwängen konfrontiert sind: Der georgische Präsident steht seit den erzwungenen Neuwahlen vor einigen Monaten unter erheblichem Druck. Und er hat deshalb nie ausgeschlossen, den Konflikt mit den abtrünnigen Provinzen militärisch zu lösen. Sie gehen zu lassen, könnte sich Saakaschwili nicht leisten. Auf der anderen Seite ist da die ungelöste Führungskonstellation mit Putin und Medwedew plus einer starken patriotischen Bewegung in Russland.
SPIEGEL ONLINE: Hat sich Saakaschwili schlicht verkalkuliert?
Segbers: Es scheint so. Offensichtlich war er davon ausgegangen, den Tunnel zwischen Nord- und Südossetien blockieren zu können. In Friedenszeiten wird der auch für den Schmuggel genutzt - nun von den Russen für ihren Truppennachschub. Mit der Blockade des Tunnels hätte Georgien tatsächlich, wenigstens für ein paar Tage, den russischen Boden-Nachschub aufhalten können, und der ist im Moment entscheidend. Und dann wäre vielleicht eine ganz andere Großwetterlage eingetreten, die Moskau dann hätte viel vorsichtiger agieren lassen. Das ist alles danebengegangen.
SPIEGEL ONLINE: Auch von den USA scheint sich Saakaschwili mehr erwartet zu haben ...
Segbers: ... wofür es aus meiner Sicht allerdings keine Anhaltspunkte gab. Dass die US-Administration den Georgiern signalisiert habe "Macht mal, wir stehen nicht nur rhetorisch an Eurer Seite", das sehe ich nicht. Wo es für die Amerikaner zurzeit so viele Konfliktherde gibt, wäre es geradezu abenteuerlich, hier einen zusätzlichen billigend in Kauf zu nehmen. Und das sage ich im Wissen, dass die US-Außenpolitik mitunter abenteuerlich ist - aber nicht in diesem Fall.
SPIEGEL ONLINE: Ist es denn klug von Washington gewesen, Saakaschwili so demonstrativ zu unterstützen - bis zur Forderung, Georgien in die Nato aufzunehmen?
Segbers: Das mag schon sein, dass man in Washington nicht durchschaut hat, in welches Pulverfass man da investiert. Dennoch: Letzten Endes ist das für die Erklärung dieser Eskalation nicht von zentraler Bedeutung. Auch nicht die Energiefrage, obwohl es zweifellos wichtige Leitungen sind, die durch Georgien gehen. Der Kern liegt darin, dass wir weltweit eine Proliferation von Separatismen haben. Und dazu gibt es sehr unklare Argumentationslinien. Siehe Tschetschenien, siehe Kosovo. Jetzt ist dieses Problem endgültig im Herzen Westeuropas angekommen - und da sind noch Katalonien, das Baskenland, Schottland, Belgien ...
SPIEGEL ONLINE: ... mit dem Unterschied, dass sich in Georgien beinahe die alten Blöcke des Kalten Kriegs gegenüberstehen.
Segbers: Aber das ist nun wirklich ein Rückfall in alte Stereotypen. Die Situation ist längst nicht mehr die zweier Camps, auch nicht im Fall Georgien. Es ist eine ganz undurchsichtige Lage, von Bipolarität kann da gar keine Rede sein. Immerhin spielen hier auch noch die Interessen der südossetischen Regierung eine nicht unwichtige Rolle.
SPIEGEL ONLINE: Die georgische Zwischenbilanz sieht nach drei Tagen Krieg jedenfalls nicht gut aus: Sind die abtrünnigen Provinzen nicht weiter weg als zuvor?
Segbers: Das ist richtig. Man muss aber umgekehrt sehen, dass die russische Führung auch keine einheitliche Position hat. Es ist nicht so, wie es im Westen manchmal unterstellt wird, dass Moskau Südossetien und Abchasien quasi heim oder zurückholen will. Das russische Interesse war vielmehr, die Sache am Köcheln zu lassen - und auch das ist nun ruiniert. Jetzt muss Russland viel mehr Militärpräsenz zeigen, als man das eigentlich wollte.
SPIEGEL ONLINE: Anderseits ist für Georgien auch die Nato-Mitgliedschaft in weite Ferne gerückt.
Segbers: Ich würde mir das auch nicht wünschen - obwohl ich nichts gegen die Georgier habe, im Gegenteil. Aber man darf nicht vergessen, dass die Nato in Artikel 5 eine automatische Beistandsgarantie hat - und es kann ja wohl im Ernst niemand ein Interesse daran haben, dass wir Länder in die Nato nehmen, die jede Woche einen Konflikt mit einer Nuklear-Macht beginnen können.
SPIEGEL ONLINE: Gibt es einen kurzfristigen Ausweg aus dem Konflikt?
Segbers: Kaum. Die Spannungen haben sich teilweise seit über hundert Jahren aufgebaut und werden nun wieder aktiviert. Nur massiver politischer und anderer Druck aus dem Westen könnte hier etwas bewegen - mit dem ist jetzt nicht wirklich zu rechnen.
SPIEGEL ONLINE: Müssen nach den Ereignissen des Wochenendes auch andere ehemalige Sowjet-Republiken Sorge vor Moskau haben?
Segbers: Imperiale Gelüste, oder wie das im Moment auch immer genannt wird, sehe ich in Moskau nicht. Für Russland gilt das gleiche wie für China: Die inneren Aufgaben - Bildung, Infrastruktur, Gesundheitssystem - sind so immens, dass es für außenpolitische Abenteuer gar keinen Spielraum gibt. In Russland ist der Punkt ein anderer: Es gibt dort die Grundannahme, aus meiner Sicht unzutreffend, dass es in westlichen Staatskanzleien den Masterplan einer farbigen Revolution für Russland gibt, nach dem Beispiel von Georgien oder der Ukraine. Davor hat man Angst - und auch daraus entstehen mitunter irrationale Handlungen.
Das Gespräch führte Florian Gathmann