Gefangenenaustausch in der Ostukraine Endlich frei

Endlich wieder zusammen: Ein ukrainischer Gefangener umarmt seine Mutter nach dem Gefangenenaustausch
Foto: Evgeniy Maloletka/ AP/ DPADas Büro des ukrainischen Präsidenten übertrug live vom Kontrollpunkt Majorske an der Frontlinie im Südosten des Landes. Hier muss passieren, wer von der von prorussischen Kämpfern besetzten selbsternannten "Volksrepublik" Donezk in das von ukrainischen Soldaten kontrollierte Gebiet gelangen will oder umgekehrt. Am Sonntag empfingen beide Seiten in dem schwer bewachten Kontrollpunkt Dutzende Gefangene: Die prorussischen Separatisten entließen 76 Menschen aus ihren Lagern und Gefängnissen in den Gebieten Donezk und Luhansk, in der Ukraine kamen 127 Menschen frei.
Kameras zeigten, wie auf ukrainischer Seite Mütter ihre Söhne umarmten, Frauen in Armeeuniformen Männer in den Arm nahmen, ihnen Telefone überreichten, damit sie ihre Familien anrufen konnten. Eine Frau hatte auf ihre weiße Jacke mit blauem Stift in großen Buchstaben "Meine Heimat - Ukraine" geschrieben. Dabei handelt es sich nach ukrainischen Medienberichten um eine von insgesamt 16 freigelassenen Frauen: Olena Sorokina, eine Besitzerin eines Zoogeschäfts in Perwomajske aus dem Gebiet Luhansk. Ihr Schicksal war erst Ende 2018 durch die Uno bekannt geworden, lokale Sicherheitsbeamte hatten Sorokina festgenommen. Auf der Liste der Ausgetauschten, die am Abend in Kiew landeten, war auch der Journalist Stanislaw Asejew von Radio Free Europe.
Präsident Wolodymyr Selenskyj nahm die Freigelassenen auf dem Flughafen Boryspil einzeln im Beisein ihrer Angehörigen in Empfang. Die Rückkehr der 12 Soldaten und 64 Zivilisten nach Jahren der Gefangenschaft war Hauptthema in den ukrainischen Medien kurz vor dem Neujahrsfest, das für die meisten Ukrainer und Russen ein sehr wichtiges, wenn nicht das wichtigste Fest im Jahr ist.
Wer gilt als Gefangener?
Der Austausch am Sonntag ist der größte seit zwei Jahren, allerdings nicht im Format "alle gegen alle". Lange hatte Selenskyj versprochen, schnell alle Gefangenen nach Hause zu holen. Doch schon beim Ukrainegipfel mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin im Beisein von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron (Normandie-Treffen) am 9. Dezember zeigte sich, dass keine Einigkeit darüber besteht, wer als Gefangener infolge des Krieges im Donbass gilt.
Putin sprach in Paris nur von einem Austausch von "allen vereinbarten für alle vereinbarten" Gefangenen - zu dem es jetzt auch kam, allerdings erst nach zähen Verhandlungen unter Vermittlung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, kurz OSZE. Einige Gefangene wollten nach einem Bericht der russischen Zeitung "Kommersant" gar nicht in die international nicht anerkannten "Volksrepubliken" übergeben werden.
Im Video: Austausch der Gefangenen
Für Kiew soll dieser Austausch nur der Beginn weiterer Übergaben sein. Noch immer sitzen nach Angaben der Ukraine Dutzende politische Gefangene in Gefängnissen auf der von Moskau annektierten Schwarzmeerhalbinsel Krim und in Russland, dazu weitere Dutzende Soldaten und Zivilisten in den von prorussischen Kämpfern besetzten Gebieten von Donezk und Luhansk. Der ukrainische Geheimdienst SBU spricht von mehr als 150 Menschen.
Proteste in Kiew - Fünf Berkut-Kämpfer übergeben
Auch dieses Mal musste Selenskyj einen hohen Preis dafür zahlen, damit Soldaten und Zivilisten freigelassen wurden. Die Ukraine übergab den prorussischen Separatisten dafür auch fünf Kämpfer der Spezialeinheit Berkut, die während der Euromaidan-Proteste 2014 in Kiew brutal gegen Demonstranten vorgingen. Damals starben 100 Menschen, Dutzende wurden verletzt. Als am Samstag die Nachricht bekannt wurde, dass die fünf Berkut-Männer ohne Urteil entlassen werden sollen, versuchten Angehörige der Maidan-Opfer vergeblich, die Zufahrt vor einem Gefängnis in Kiew zu blockieren, in dem die Berkut-Offiziere saßen.
Einmal mehr zeigt sich damit, wie ungleich der Krieg in der Ostukraine geführt wird. Ohne Zugeständnisse des Kreml, der die Separatisten finanziell und militärisch mit Milliarden Rubel sowie ideologisch stützt, wird in diesem Konflikt kaum etwas vorangehen.
Schon beim Gefangenenaustausch im September, damals 35 gegen 35 zwischen der Ukraine und Russland , hatte Moskau für die Freilassung der ukrainischen Seeleute von Kertsch und des Regisseurs Oleh Senzow ausgerechnet jenen ehemaligen Kommandeur verlangt, der wichtiger Augenzeuge im Fall des im Juli 2014 abgeschossenen Passagierflugzeugs MH 17 ist. Die Maschine ist nach Auffassung von niederländischen Ermittlern von einer Rakete vom Typ Buk getroffen worden, die aus Russland stammt. Kommandeur Wladimir Tsemach, Mitglied einer prorussischen Luftwehreinheit in Donezk, wurde freigelassen. Selenskyj nannte diese Entscheidung damals "kompliziert".
Er wird nun dafür kritisiert, dass er den Angehörigen der Opfer des Maidans mit der Freilassung der Berkut-Kämpfer den Wunsch nach Gerechtigkeit verwehrt hat.
Für den ukrainischen Präsidenten zählen die kleinen Erfolge, die er im Konflikt in der Ostukraine nun nach Jahren des Stillstands erzielen kann. Pragmatisch kann man sein Vorgehen nennen, doch es ist auch endlich, weil er immer von Putins Entgegenkommen abhängig ist.
Moskau hat kein Interesse an einem "Update" des Minsker Abkommens
Selenskyj will eigentlich ein "Update" des Minsker Abkommens erreichen, um endlich Frieden nach mehr als fünf Jahren Donbass-Krieg mit etwa 14.000 Toten und 2,8 Millionen Flüchtlingen zu finden. Geht es nach Kiew, bekommt die Ukraine die Kontrolle über die Ostgrenze zu Russland zurück, bevor in den abtrünnigen Gebieten Wahlen stattfinden. Moskau ist dazu nicht bereit: Putin will allein das Minsker Abkommen umsetzen, nach dem es erst Wahlen geben soll. So will sich der Kreml Einfluss in der Ukraine sichern - und es sieht derzeit nicht so aus, als ob er von dieser Linie abweicht. Im Gegensatz zu Selenskyj steht Putin nicht unter dem Druck, Ergebnisse wie versprochen möglichst bald zu liefern.
Im April wollen sich die beiden Präsidenten in Berlin zu ihrem zweiten Normandie-Gipfel treffen. Allerdings ist bis dahin noch einiges abzuarbeiten, darunter ein Waffenstillstand, den es eigentlich dem Minsker Abkommen zufolge schon seit Jahren gibt. Er soll nun laut Erklärung von Paris bis Ende dieses Jahres umgesetzt werden.
Doch die OSZE meldet weiterhin jeden Tag Dutzende Explosionen, Verstöße gegen die Waffenruhe. Selenskyj, der immer wieder betont, wie wichtig der Gefangenenaustausch und Waffenstillstand für ihn sind, hatte bereits in Paris wenig optimistisch geklungen. Er sagte: "Ich weiß, ehrlich gesagt, bisher nicht, wie die Situation kontrolliert werden kann."