Palästinenser Die Erben des Raïs
Ruhi Fattuh
Zumindest für die kommenden zwei Monate ist die Nachfolge des Raïs, des Oberhauptes des palästinensischen Volkes, formal geregelt. Gestern wurde der palästinensische Parlamentspräsident Ruhi Fattuh, 55, als Übergangspräsident der Autonomiebehörde vereidigt. Innerhalb von 60 Tagen soll ein neuer Palästinenser-Präsident gewählt werden. Als würdiger Ersatz Arafats gilt der als blass geltende und weitgehend unbekannte frühere Kabinettsminister keinesfalls. Während seiner Amtszeit als Parlamentspräsident überraschte er jedoch viele, als er aus Protest gegen Arafats Reformverweigerung Sitzungen des Abgeordnetenhauses wochenlang aussetzte. Bei seiner Vereidigung erklärte Fattuh jedoch nun, er wolle dem Kurs Arafats folgen. Zugleich versicherte er, die neue palästinensische Führung sei einem "fairen und gerechten Frieden verpflichtet". Seine Amtszeit könnten andere nutzen, die als viel machtbewusster gelten als der studierte Politikwissenschafter.
Fattuhs Familie stammt aus dem palästinensischen Dorf Burka, heute liegt es in Israel. Er wuchs im damals von Ägypten kontrollierten Flüchtlingslager Rafah auf und floh 1967 nach Jordanien. Er studierte in Jordanien und Syrien und trat 1968 Arafats Fatah-Bewegung bei. 1983 wurde Fattuh in den palästinensischen Nationalrat gewählt, 1989 in den Revolutionsrat der Fatah-Bewegung. Doch stieg er nie in die erste Reihe der Organisation auf. Nach dem Oslo-Abkommen kehrte Fattuh gemeinsam mit Arafat in den Gaza-Streifen zurück und half beim Aufbau der Autonomiebehörde. Fattuh gehört dem Parlament seit 1996 an und war 2003 für kurze Zeit Landwirtschaftsminister. Zum Parlamentspräsidenten wurde er von Arafat selbst bestimmt.
Mahmud Abbas
Bei der PLO hat bereits die bisherige Nummer zwei, Mahmud Abbas, 69, kommissarisch die Führung übernommen, seit Arafat seinen Amtssitz in Ramallah Ende vergangener Woche für die medizinische Behandlung in Frankreich verlassen hat. Der Mitbegründer der PLO wurde 1980 an die Spitze der Bewegung gewählt und galt seither als jener Mann, der einmal Arafats Posten übernehmen würde. Abbas, der auch unter seinem Kampfnamen Abu Mazen bekannt ist, wurde in Safed in Galiläa geboren, das heute zu Israel gehört. 1948 floh er mit seinen Eltern in die syrische Hauptstadt Damaskus. Dort studierte er Jura, englische und arabische Literatur und erlangte einen Doktortitel der Universität Moskau im Fachbereich "Israelische Politik". Während des Ölbooms arbeitete Abbas am Persischen Golf und ließ sich später in den Vereinigten Arabischen Emiraten nieder.
Trotz seiner Fluchterfahrung wurde er zu einem der wichtigsten Architekten der Friedensverträge von Oslo, die den Palästinensern erstmals eine Teilautonomie einräumten. Kritiker halten ihn jedoch für einen Bürokraten, für einen Mann des Arafat-Establishments, das als korrupt verschrien ist. Vergangenes Jahr hatte er vier Monate lang das Amt des palästinensischen Ministerpräsidenten inne, trat nach einem verlorenen Kampf um Reformen - letztendlich ein Machtkampf mit Arafat - zurück. Im Gegensatz zu Arafat hat Abbas es stets vermieden, im Rampenlicht zu stehen. Abbas gilt er als Mann des Ausgleichs, als erbitterter Gegner der Gewalt und könnte noch eine Zeitlang an der Spitze der Palästinenser bleiben.
Ahmed Kurei
Die Verantwortung für das Tagesgeschäft der Regierung darf der palästinensische Ministerpräsident Ahmed Kurei, 66, behalten. Der ehemalige Parlamentssprecher übernahm das Amt des Regierungschefs nach dem Rücktritt von Abbas. Seit heute leitet er auch den Nationalen Sicherheitsrat der Palästinenser.
Er wurde 1937 im Jerusalemer Vorort Abu Dis geboren. Ende der sechziger Jahre schloss sich Kurei, der sich auch Abu Ala nennt, der Fatah an und ging zusammen mit der PLO-Führung Anfang der achtziger Jahre nach Tunis. Seit den Exiljahren galt er als äußerst enger Weggefährte Arafats. Er war Chef der PLO-Finanzabteilung und 1989 Mitglied im Fatah-Zentralkomitee. Mitte der neunziger Jahre konzentrierte sich der gelernte Bankier auf die Erstellung eines palästinensischen Entwicklungsplans, der Grundlage für den Wiederaufbau der autonomen Gebiete wurde. Er wurde zudem Minister für Wirtschaft und Handel - und später auch Industrieminister. Abu Ala war zudem eine der Schlüsselfiguren in den geheimen Verhandlungen mit Israel. Obwohl er stets eine kompromisslose Linie in den Schlüsselfragen des Friedensprozesses verfolgte, gilt er dennoch in Israel als moderat und pragmatisch. Schließlich lehnte er die blutige Intifada stets ab.
Kurei gilt als einer der gebildetsten palästinensischen Politiker und hat einen Ruf als charmanter, toleranter Mann. Im Gegensatz zu Arafat mangelt es ihm jedoch an Charisma und Rückhalt in der Bevölkerung. Sie unterstellen ihm Korruption und Geschäfte mit jüdischen Siedlungen. Als Ministerpräsident hat er mehrmals mit seinem Rücktritt gedroht, weil Arafat ihn nicht mit mehr Macht ausgestattet hat. Jedes Mal ließ er sich jedoch zum Bleiben überreden.
Marwan Barghuti
Der frühere Fatah-Generalsekretär Marwan Barghuti ist nach Arafats Tod nun zum beliebtesten Politiker seines Volkes aufgestiegen. Der 43-Jährige aus der Gegend um Ramallah verfügt über eine geradezu magnetische Ausstrahlung - auch weil er nicht wie viele andere im Umfeld Arafats unter dem Verdacht der Korruption steht. Allerdings sitzt er zurzeit in einem israelischen Gefängnis - verurteilt wegen fünf Mordanschlägen. Aber auch nach Ansicht des Gerichts hatte Barghuti keine direkte Kontrolle über Extremisten und wurde meist erst nach den Attentaten informiert. Allerdings soll er sie mit Geld und Waffen unterstützt haben. Barghuti, der sich selbst verteidigte, erkannte das Gericht nie an, da er Abgeordneter des palästinensischen Parlaments sei und von israelischen Sicherheitskräften im Jahr 2002 entführt worden sei. Er wurde zur Höchststrafe von fünfmal lebenslänglich und 40 Jahren Haft verurteilt.
Vom Gefängnis aus zieht er jedoch weiter die Fäden. In den neunziger Jahren hatte er den Friedensprozess unterstützt. Nach dem Scheitern des Gipfeltreffens von Camp David 2000 sprach er sich für den bewaffneten Kampf aus. Der feurige Redner gilt als volksnaher Anführer des seit dem Jahr 2000 andauernden Aufstandes und als Koordinator der ersten Intifada, die 1993 zu Ende ging. Israel schloss gestern jedoch eine vorzeitige Haftentlassung von Barghuti aus. "Er wird den Rest seines Lebens im Gefängnis bleiben", sagte Außenminister Silwan Schalom. Barghuti sei ein Mörder, der viele unschuldige Menschen auf dem Gewissen habe.
Mohammed Dahlan
Der frühere Innenminister und Sicherheitschef gilt als starker Mann des Gaza-Streifens. Der "Arafat-Enkel" wurde 1961 im palästinensischen Flüchtlingslager von Chan Junis im Gaza-Streifen geboren - dort blieb er bis zum Abitur. Dann begann er sein Studium in Kairo und wechselte bald nach Gaza. Obwohl er zehn Jahre an der Islamischen Universität für Geschichte und Wirtschaft eingeschrieben war, schloss er sein Studium nicht ab. Als PLO-Sympathisant organisierte er die Fatah-Jugendorganisation Shabiba an der Universität. Nach mehreren Gefängnisaufenthalten zwischen 1981 und 1986, bei denen er Hebräisch lernte, wurde der Studentenführer 1988 nach Jordanien abgeschoben. Erst 1994 konnte er in seine Heimat zurückkehren. Als Geheimdienstchef des Gaza-Streifens versprach er anschließend, den Extremisten das Handwerk zu legen, schloss einige Hamas-Büros und wollte mit rund 5000 Sicherheitsbeamten militanten Aktionen zuvorkommen. Politische Beobachter bescheinigten ihm Ehrgeiz, Klugheit und taktisches Geschick. Besonders die reform-orientierten Palästinenser der jüngeren Generation, aber auch die Amerikaner, mögen ihn und halten ihn für einen ernst zu nehmenden Herausforderer der alten Clique. Der stets elegant gekleidete Dahlan gilt als Waffengänger von Abbas. Internationale Beobachter trauen ihm wegen seiner guten Verbindungen zu Israel zu, nach einem Rückzug der israelischen Truppen aus dem Gaza-Streifen für Ruhe und Ordnung in der Region zu sorgen. Obwohl er sich lange mit Arafat überworfen hatte, gehörte er zu den Politikern, die den schwer kranken Arafat in das Militärkrankenhaus bei Paris begleiteten.
Dschibril Radschub
Allerdings werden auch dem Chef des bewaffneten Sicherheitsdienstes in der Westbank, Dschibril Radschub, Ambitionen nachgesagt. Radschub gilt als Mann von Kurei. Seine Kritiker haben ihm jedoch Kollaboration mit dem CIA und Israel vorgeworfen, weil er vor ein paar Jahren Arafats Hauptquartier in Ramallah den israelischen Truppen ausgeliefert hatte. Zudem verfügt er nur über eine kleine Hausmacht. Ihm fehlt die Nähe zu denen, die mit Arafat im Exil waren und nun erstmal provisorisch seine Nachfolge antreten werden.
Faruk Kaddumi
Der neue Fatah-Generalsekretär leitete bislang die Politische Abteilung der PLO. Der 73-Jährige aus Nablus gründete in den fünfziger Jahren zusammen mit Arafat die Fatah. 1989 bekam die Fatah innerhalb der PLO einen zusätzlichen Vorsitz - Kaddumi wurde neben Arafat und Abbas Chef der Organisation. Als enger Getreuer Arafats baute er auf der ganzen Welt diplomatische Vertretungen der PLO auf. In den neunziger Jahren stellte er sich jedoch gegen den Friedensprozess mit Israel und warf Arafat vor, er gebe Ansprüche der Palästinenser auf.
Nabil Schaath
Der staatsmännisch auftretende Nabil Schaath, 65, ist seit vielen Jahren Außenminister der Palästinenser - und nicht nur der PLO. Er nahm als Delegationsmitglied an der Nahost-Konferenz in Madrid im Jahr 1991 teil und war an den Friedensverhandlungen mit Israel zwei Jahre später beteiligt. In den achtziger Jahren war er Berater mehrerer arabischer Regierungen und lehrte Finanz- und Wirtschaftswissenschaften in den USA, in Ägypten und Libanon. Der weltgewandte Schaath war zudem Vorsitzender der ersten PLO-Delegation bei den Vereinten Nationen. Wie Abbas stammt er aus der Stadt Safed. Nach Einschätzung von Beobachtern wird er weiterhin eine wichtige Rolle spielen - aber weiter in der zweiten Reihe bleiben.