Palästinenser-Exodus aus Gaza "Die Ägypter konnten sich kein Massaker leisten"

Noch immer strömen Tausende Palästinenser nach Ägypten. Der Politikwissenschaftler Mkhaimar Abu Sada aus Gaza erklärt im Interview mit SPIEGEL ONLINE, warum Kairo den Massenansturm nicht konsequent durch seine Grenzpolizisten stoppen lässt.

SPIEGEL ONLINE: Es sah zunächst so aus, als ob Ägypten die Grenze zum Gaza-Streifen nach zwei Tagen wieder schließen wollte. Polizisten gingen mit Schlagstöcken gegen Palästinenser vor, die versuchten auf die andere Seite zu gelangen. Die Menge war empört, immer mehr Menschen kamen hinzu. Schließlich durchbrachen die Massen die Polizeikordons und überrannten die Ägypter einfach. Die Grenzpolizei zog sich zurück. Warum?

Mkhaimar Abu Sada: Die Ägypter konnten es sich nicht leisten, unter den anstürmenden Massen ein Massaker anzurichten. Das wäre Kairo von der gesamten arabischen Welt sehr übel genommen worden. Zudem ist der ägyptische Präsident Husni Mubarak darauf bedacht, sein Erbe zu ordnen. Irgendwann demnächst wird die Macht an seinen Sohn Jamal übergehen, vorher will Mubarak Senior die Kritiker im eigenen Land ruhigstellen, allen voran die Muslimbruderschaft, die sich der Hamas verbunden fühlt. Indem er die Grenzöffnung zuließ, kann Mubarak ihr gegenüber nun darauf hinweisen, dass ihm das Wohl der Palästinenser am Herzen liegt, auch wenn sie Hamas-Unterstützer sind.

SPIEGEL ONLINE: Der Frieden zwischen Kairo und Jerusalem steht, ist aber nicht unerschütterlich. Nun hat Ägypten mit der Hamas die Erzfeinde Israels über seine Grenze gelassen. Was für eine Botschaft sollte das nach Jerusalem senden?

Abu Sada: Vielleicht eine, die gar nicht so viel mit Gaza selbst zu tun hat. Mubarak versucht seit langem, Israel davon zu überzeugen, das Abkommen von Camp David zu modifizieren. Er will mehr Truppen auf dem Sinai stationieren dürfen als in dem Friedensvertrag vorgesehen. Israel hat das bis jetzt verweigert. Dass sich die ägyptischen Truppen in Rafah nun von der Volksmasse haben überrennen lassen, ist also auch ein Signal an Israel: Wenn ihr vor Gaza sicher sein wollt, müsst ihr gestatten, dass wir mehr Militär an die Grenze verlegen.

SPIEGEL ONLINE: Jeder, der in diesen Tagen an die Grenze geht, kann sehen, dass die metallene Grenzmauer schon vor Wochen per Schweißbrenner angeschnitten worden war. Augenscheinlich haben Kommandos die Sprengung der Mauer von langer Hand vorbereitet. Israel überwacht diese Grenze minutiös aus der Luft, wenn dort geschweißt wurde, kann das seinen Drohnen nicht entgangen sein. Warum hat Israel die Öffnung nicht schon im Vorfeld verhindert?

Abu Sada: Hätte Israel die Ereignisse der letzten Tage verhindern wollen, hätte es dazu alle Möglichkeiten gehabt. Dass Israels Reaktion auf die Grenzöffnung bislang eher zurückhaltend war, zeigt zusätzlich, dass die Entwicklung vielleicht in seinem Interesse liegt. Israel kann nur davon profitieren, wenn sich Gaza Ägypten zuwendet: Es wäre die Verantwortung für den Küstenstreifen los. Schlösse sich Gaza näher an Ägypten an, würde es zudem noch weiter vom Westjordanland wegdriften. Da Israel ein großes Interesse an der Spaltung der Palästinenser hat, kann ihm das nur recht sein.

SPIEGEL ONLINE: Die Grenzen zwischen Israel und dem Gaza-Streifen permanent geschlossen, dafür eine offene Grenze mit Ägypten: Ist das ein mögliches Szenario für die nahe Zukunft?

Abu Sada: Praktisch wäre das sicher möglich, aber die Hamas wird einen Teufel tun, so etwas zu fordern. Zentraler Punkt in der Ideologie der Hamas ist die territoriale Einheit Palästinas. Würde sie akzeptieren, dass Israel seine Grenzen dichtmacht, verlöre der Küstenstreifen den Anschluss an das Westjordanland. Das käme der Zerschlagung des nationalen Traums eines Staates Palästina gleich.

SPIEGEL ONLINE: Kam der Mauerfall von Rafah überraschend?

Abu Sada: Die Hamas hat die Erstürmung der Grenze durch das Volk sorgfältig orchestriert. Vorbereitet wurde es durch gezielte Desinformation. Als die Israelis vergangene Woche eine totale Blockade gegen den Gaza-Streifen verhängten, brachte die Hamas ihre Medien-Maschinerie zum Einsatz. Über eigene und sympathisierende Fernsehsender wie al-Dschasira schuf sie ein Bild, nachdem ganz Gaza im Dunkeln saß und Hunger litt. Die Situation war zwar schlimm, aber so schlimm nicht. Aber durch die Propaganda konnte sie die Massen Richtung ägyptische Grenze treiben.

SPIEGEL ONLINE: Wieso hat die Hamas die Grenzöffnung ausgerechnet jetzt beschlossen und durchgesetzt?

Abu Sada: Für die Hamas ist die Grenzöffnung ein großer Sieg. Damit hat sie gezeigt, dass sie die israelische Blockade brechen kann. Die Hamas hat dadurch Zeit gekauft, den Gaza-Streifen wieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Angesichts der schlechten Lage war in den vergangenen Monaten unter der Bevölkerung Unmut entstanden, der sich früher oder später auch gegen das Regime gerichtet hätte.

SPIEGEL ONLINE: Der Palästinenserpräsident Mahmud Abbas und seine Fatah zeigen sich seit dem Grenz-Coup ihrer Gegner von der Hamas erstaunlich einsilbig. Warum kommen aus dem Westjordanland keine stärkeren Reaktionen?

Abu Sada: Mahmud Abbas erlebt gerade seinen schlimmsten Alptraum. Er ist der einzige große Verlierer in diesem Szenario. Auf den Tag genau vor zwei Jahren hat die Hamas die Wahlen in Palästina gewonnen, seitdem wurde ihr ein Knüppel nach dem nächsten zwischen die Beine geworfen. Und was macht die Hamas? Verwandelt jede Herausforderung in einen Sieg. Erst übernimmt sie die Alleinherrschaft über Gaza und jetzt unterwandert sie die israelische und internationale Blockade indem sie nach Ägypten ausweicht. Abbas hatte darauf gesetzt, dass der Druck der internationalen Gemeinschaft die Hamas erledigen wird, das Gegenteil ist der Fall, sie ist stärker und leider auch extremistischer denn je.

SPIEGEL ONLINE: Was heißt das für die Zukunft? Gibt es eine Chance, dass die Fatah und Hamas wieder zusammenfinden? Immerhin hat die Hamas-Führung heute Gesprächsbereitschaft signalisiert.

Abu Sada: Ich fürchte, der Graben zwischen beiden Fraktionen wird erstmal noch sehr viel tiefer werden. Die Hamas hat Oberwasser, natürlich kann sie sich gesprächsbereit zeigen – sie ist in einer sehr starken Position. Die Radikal-Islamisten haben sich im Gaza-Streifen ein eigenes Reich geschaffen, Hamastan. Was kann ihnen Abbas da schon bieten? Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber von einer nationalen Versöhnung sind wir weiter entfernt denn je.

Das Interview führte Ulrike Putz

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