Palästinenser Trauergesänge von Blut und Seele

In Ramallah entlud sich die Trauer um den verstorbenen PLO-Chef Jassir Arafat am Donnerstagabend in einer dramatischen Kundgebung vor dessen Amtssitz. Die Demonstration ist ein Vorgeschmack auf die Emotionen, die sich bei der Beisetzung Arafats Bahn brechen werden. Nun droht ein Sicherheitsalptraum.
Von Yassin Musharbash

Ramallah - Plötzlich fliegt ein Holzstock durch die Luft, dann noch einer. Ein junger Palästinenser klettert einen wackeligen Strommast hinauf und befestigt eine schwarz-rot-grüne Flagge. Hunderte pfeifen ihm zum Beifall zu, tausende weitere drücken sich derweil gegen den Haupteingang des Mukata, des verwaisten Hauptquartiers des heute Morgen verstorbenen Palästinenserpräsidenten Jassir Arafat. Sie wollen um jeden Preis hinein. Über all dem liegt ein dichter Klangteppich aus gesungenen Parolen: "Mit unseren Blut, mit unsere Seele kämpfen wir für dich, O Arafat", singen die Demonstranten rhythmisch, die sich zur Abendstunde hier versammelt haben. Ungeheure Emotionen und grenzenlose Trauer brechen sich bahn und bieten einen Ausblick auf das, was bei der für Morgen oder spätestens Übermorgen geplanten Beisetzung des Palästinenserführers zu erwarten ist.

Immer wieder gibt es Momente, wo alles außer Kontrolle zu raten gedroht. So zum Beispiel, als der erste Verletzte abtransportiert werden muss oder es den Sicherheitsleuten nicht auf Anhieb gelingt, die Schiebetür, die die Trauernden von der Mukata trennt, zu schließen. Die zahlreichen Sicherheitsbeamten, selbst offenkundig voller Trauer, tun allerdings ihr Bestes, die Masse zu beruhigen. Ein paar Demonstranten steigen auf einen in der Mitte der schmalen Straße geparkten Lieferwagen. Das Gefährt wippt bedenklich, ein Dutzend Leute drücken das Dach ein. Im letzten Augenblick gelingt es Polizisten, mit ruhigen Worten Schlimmeres zu verhindern und den Wagen aus der Gefahrenzone zu schaffen.

Die Trauernden sind zum größten Teil aus Ramallah, doch sie sind verstärkt durch Demonstranten aus den umliegenden Dörfern und übrigen Städten der Westbank. Für diese Trauernden ist es die erste Gelegenheit, ihre Verzweifelung über den Verlust ihres nationalen Symbols öffentlich auszudrücken. Wenn Arafat morgen oder übermorgen beigesetzt wird, werden Zehntausende erwartet, für die dasselbe gilt. Ramallah könnte zu einem Sicherheitsalptraum werden. Gefahr droht allerdings weniger durch innerpalästinensische Konflikte als vielmehr durch Verletzte, die das Getümmel fordern könnte - solange die Sicherheitskräfte nicht dazu gezwungen werden, massiv gegen ihre Landsleute vorzugehen. Mit welchem Szenario zu rechnen sein wird, wenn Arafats Leichnam erst wirklich in der Mukata angekommen sein wird, mag sich zur Stunde niemand ausmalen.

Tränen bei der Nationalhmyne

Dabei hatte der heutige Tag in Ramallah überraschend ruhig und nachdenklich begonnen. Zwar hatten Militante in die Luft geschossen und junge Arafat-Anhänger kriegerische Parolen gerufen, aber zu einer derartigen Entladung der kollektiven Emotionen war es im Laufe des Tages nicht gekommen. Stattdessen hatten die Menschen vor dem Fernseher verfolgt, wie der tote Körper Arafats per Hubschrauber vom Pariser Krankenhaus Percy gebracht und dann mit militärischen Ehren nach Ägypten verabschiedet worden war.

Umm Abbed, einer Hausfrau aus Ramallah, stiegen erneut die Tränen in die Augen, als sie hörte, wie die französischen Musiker auf dem Flugplatz die palästinensische Nationalhymne "Mein Land" spielten. Ihre schwangere Schwiegertochter Nisrin beschloss in diesem Moment, ihr Kind - sollte es ein Junge werden - Jassir zu nennen. Diese Entscheidung war in der Familie das Gesprächsthema beim Abendessen, das den heutigen Fastentag, einen der letzten im Ramadan, mit einem Mahl aus Graupensuppe, Bohnen, Reis und Lammfleisch beschloss.

Soldaten und einfache Bürger schmückten unterdessen in der ganzen Stadt Arafat-Portraits mit Blumen, Kerzen wurden aufgestellt, sobald die Dämmerung einsetzte. Im Lichte der gefühlsbeladenen Demonatration erscheint es nun umso gerechtfertigter, dass der Rote Halbmond heute Nachmittag rund um das Mukata-Gelände Erste-Hilfe-Zelte aufstellen ließ. "Für alle Fälle", sagte eine junge Freiwillige, die beim Einrammen der Pflöcke half. Einige Palästinenser befürchten, dass sich auch innerpalästinensische Konflikte, die Arafat kraft seiner Persönlichkeit hatte ausgleichen können, in den kommenden entladen werden. "Arafat war wie der oberste Punkt eines Zeltgerüstes, an dem alle Streben zusammenlaufen, und der alles zusammenhält", sagte heute besorgt ein Polizist.

Der junge Mann, der am Nachmittag mit seiner Waffe, einem Maschinengewehr, zu dem verabredeten Treffen erscheint, will seinen Namen und sein Alter nicht angeben. Er hat es nicht darauf abgesehen, dass Palästinenser auf Palästinenser schießen. Doch einige glauben, dass seine Organisation eben dafür sorgen könnte. Er gehört zu den auf Arafat eingeschworenen Al-Aksa-Brigaden, dem bewaffneten Zweig der Fatah-Bewegung, der sich heute in Arafat-Brigaden umgetauft hat. Den Israelis gelten die Brigaden als Terrororganisation. In der Tat begingen Mitglieder der Gruppe Selbstmordattentate und Anschläge auf israelische Zivilisten, Soldaten und Siedler.

"Der Widerstand wird weitergehen", sagt der Mann, der eine tarnfarbene Uniform trägt, dazu eine schwarz-weiße Kuffiye und zwei Revolver an einem Gürtel. Etwa 35 bis 40 Kämpfer hätten die Brigaden in Ramallah, erklärt er. Fast alle stehen auf der Wanted-Liste der Israelis. In den vergangenen Monaten haben sie in der Mukata gelebt, waren damit unangreifbar. Nun sind sie in der Stadt vereilt. Der Kämpfer aber gibt sich friedfertig, seine Trauer über den Verlust Arafats ist ihn noch anzusehen. Die Brigaden hätten hingenommen, dass Arafat nun in der Mukata und nicht in Jerusalem beerdigt werde, gibt er zu Protokoll. Man werde nicht, wie befürchtet, versuchen, den Leichnam quasi zu entführen und nach Jerusalem zu schaffen. Später, ja, da sei das das Ziel.

Was die neue palästinensische Führung angeht, setzten die Brigaden auf Zeit, sagt er. "Wenn sie Abu Ammars Weg weitergehen, werden wir sie unterstützen." Und wenn nicht? "Dann wird das gesamte Volk gegen sie sein", antwortet er ausweichend. Ausgeschlossen sei indes, dass sie der Aufforderung folgen würden, ihre Waffen abzugeben. "Niemand hat die Autorität, das zu verlangen", erklärt er entschlossen und blitzt mit braunen Augen, über denen sich lange, dunkle, fast feminine Wimpern befinden. Eine Waffenruhe allerdings sei vorstellbar, wenn Verhandlungen mit Israel begännen - aber nur, wenn sich diese aussichtsreich gestalteten und nicht hinter Arafats Kompromiss - die Roadmap - zurückgehen.

Schüsse in der Luft

Alles, was Arafat je unterzeichnet hat, ist für die Brigaden Gesetz. Es ist schwer vorstellbar, dass sie mit dem als kompromissbereit geltenden, mutmaßlichen Arafat-Nachfolger Abu Mazen alias Mahmud Abbas ihren Frieden machen können. "Wir respektieren ihn als langjährigen Kampfgefährten Arafats, aber wir missbilligen seine Fehler", sagt der Kämpfer. Damit meint er nicht zuletzt Abu Mazens Aufruf, die seit vier Jahren andauernde Intifada gewaltlos zu führen. Dass die Sicherheitskräfte der Palästinensischen Autonomiebehörde derweil Order bekommen haben, keine Toleranz mit Bewaffneten zu zeigen, wird ebenfalls deutlich: Innerhalb des Stadtgebiets gibt es auf einmal palästinensische Checkpoints. Den ganzen Tag über haben Brigaden-Mitglieder immer wieder in die Luft geschossen, um ihre Entschlossenheit und Wehrhaftigkeit zu demonstrieren.

Am späteren Abend, gegen 20 Uhr Ortszeit, hat sich Demonstration vor der Mukata wieder beruhigt. Immer noch stehen Tausende vor dem Hauptquartier herum. Jetzt aber trinken sie Tee, den geschäftstüchtige Jungen verkaufen. Die Soldaten, die auf der Umgebungsmauer der Mukata postiert sind, stellen die im Getümmel umgestoßenen Kerzen wieder auf. Es ist noch einmal gut gegangen. Die gemeinsame Trauer verbindet zur Stunde noch mehr als unterschiedliche Ansichten trennen.

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