Palästinenserpräsident "Arafat in irreversiblem Koma"

Jassir Arafat ringt mit dem Tod. Er befindet sich laut ärztlichen Angaben in einem "irreversiblen" Koma. Vorherige Berichte, der Palästinenserpräsident sei bereits klinisch tot, wurden von einem Krankenhaussprecher dementiert. Die PLO übertrug Ministerpräsident Kurei bereits einige von Arafats Befugnissen.

Hamburg - "Herr Arafat ist nicht tot", erklärte ein Sprecher des Militärkrankenhauses Percy bei Paris. Colonel Christian Estripeau teilte ferner mit, Arafat sei auf der Intensivstation in ein Zimmer gebracht worden, das für seinen Zustand angemessen sei. Sein Zustand habe sich weiter verschlechtert.

Der Kampf der Ärzte um Arafats Leben ist offenbar aussichtslos. Der französische Sender LCI meldete am Abend unter Berufung auf einen nicht namentlich genannten Arzt, Arafat befinde sich in einem "irreversiblen Koma" und werde künstlich beatmet.

Vor dem Krankenhaus versammelten sich am Donnerstagabend Dutzende von Anhängern Arafats. Die Menschen, die sich hinter Polizeiabsperrungen drängten, hielten Kerzen, Fahnen und Porträts ihres "unsterblichen Symbols der Sache der Palästinenser" hoch. "Wir wollen nicht glauben, dass er tot ist", sagte eine Palästinenserin.

Den Erklärungen der Ärzte ging ein beispielloses Nachrichtenchaos voraus. Der israelische Sender Channel Two und der israelische Militärrundfunk hatten zuvor gemeldet, Arafat sei für klinisch tot erklärt worden. Die Sender beriefen sich auf nicht genannte französische Quellen.

Auch der luxemburgische Regierungschefs Jean-Claude Juncker hatte die Nachricht vom Tode Arafats verbreitet. In Brüssel sagte er auf Arafats Gesundheitszustand hin befragt: "Er ist vor 15 Minuten verstorben." Später ließ Juncker über einen Sprecher mitteilen, nach einem Gespräch mit dem französischen Präsidenten Jacques Chirac ziehe er seine Erklärung zurück.

Der palästinensische Ministerpräsident Ahmed Kurei hatte der Darstellung Junckers und der israelischen Medien umgehend widersprochen. Er sagte, Arafat sei keinesfalls klinisch tot.

Ashraf al-Kurdi, Arafats jordanischer Arzt, teilte mit, der Patient sei nicht hirntot, sein Zustand verschlechtere sich jedoch weiter. Weil es keine Diagnose gebe, wisse man nicht, woran Arafat leide. Aus Kreisen französischer Ärzte verlautete, Arafat befinde sich "in einem sehr tiefen Koma des Stadiums IV". In der medizinischen Terminologie kann diesem Stadium noch ein fünftes, so genanntes "terminales Koma", mit immer geringeren Gehirnströmen folgen. Dieser Zustand zwischen Leben und Tod könne mit Hilfe der Maschinen "um mehrere Tage und sogar einige Wochen verlängert werden", hieß es.

Bush: "Gott sei seiner Seele gnädig"

US-Präsident George W. Bush reagierte auf die widersprüchlichen Berichte über den Zustand Arafats mit den Worten: "Gott sei seiner Seele gnädig." Bush erfuhr vom angeblichen Tod Arafats während einer Pressekonferenz in Washington, auf der er die Grundlinien seiner Politik für die nächsten Jahre vorstellte. Er versprach, auf einen freien palästinensischen Staat hinzuarbeiten. "Meine erste Reaktion ist: "Gott sei seiner Seele gnädig.' Und meine zweite Reaktion ist: 'Wir werden weiterhin für einen freien Staat Palästina arbeiten, der mit Israel in Frieden lebt.'"

Das PLO-Exekutivkomitee übertrug am Abend wegen Arafats schwerer Erkrankung dem Ministerpräsidenten Ahmed Kurei die Befugnis zur Erledigung "dringender Finanzangelegenheiten", hieß es in Ramallah. Die Abwicklung von Finanzgeschäften hatte bisher nahezu vollständig in Arafats Händen gelegen.

In Ramallah im Westjordanland kamen führende palästinensische Politiker zu einer Krisensitzung zusammen. Kurei und Außenminister Nabil Schaath wollen am Freitag in den Gaza-Streifen reisen, um einen möglichen Gewaltausbruch zu verhindern, wie ein Mitglied der Autonomiebehörde mitteilte. Ebenfalls für Freitag wurden Delegierte von 13 verschiedenen palästinensischen Organisationen nach Gaza-Stadt eingeladen, um ein gemeinsames Handeln abzusprechen. Zugleich wurden in Ramallah, wo Arafat sein Hauptquartier hat, verstärkte Sicherheitsmaßnahmen angeordnet.

In Kalkilya im Westjordanland demonstrierten am Abend 1500 Palästinenser, um ihre Solidarität mit Arafat auszudrücken. Im Flüchtlingslager Balata kamen 500 Menschen aus demselben Grund zusammen.

Den ganzen Tag über hatte es unterschiedliche Informationen über den Gesundheitszustand Arafats gegeben.

Aus Kreisen französischer Ärzte drang am Nachmittag durch, Arafat werde "sich nicht mehr erholen". Der 75-Jährige befinde sich auf der Intensivstation. Sein Zustand habe sich dramatisch verschlechtert. Er reagiere nicht auf die Behandlung. Seine Atmung werde mit medizinischen Geräten unterstützt. Hingewiesen wurde auch auf die in den vergangenen Jahren fehlende angemessene Behandlung Arafats in seinem von der israelischen Armee abgeriegelten Hauptquartier in Ramallah.

Kurz vor seinem Abflug zum EU-Gipfel in Brüssel hatte Chirac Arafat am Krankenbett in der Militärklinik Percy besucht. Er habe ihn gesehen und mit den Ärzten gesprochen, teilte der Elyséepalast mit. Chirac habe Arafats Frau Suha seine besten Wünsche überbracht und sich mit Vertretern der Palästinenser unterhalten.

Von palästinensischer Seite gab es unterschiedliche Angaben zum Gesundheitszustand Arafats. Sein Chefberater Nabil Abu Rudeineh erklärte in Paris, Arafat sei nicht bewusstlos geworden und liege nicht im Koma.

Dagegen stehen andere Berichte aus der palästinensischen Delegation. Demnach hat Arafat seit gestern bereits dreimal das Bewusstsein verloren. Die ersten beiden Male sei er wieder aufgewacht, teilte ein namentlich nicht genanntes Delegationsmitglied in Paris mit.

Dann hieß es wiederum von offizieller palästinensischer Seite, von einem Koma könne keine Rede sein. In Ramallah sagte Abdul Rahim, ein Mitglied der Palästinenserführung: "Es ist nicht wahr, dass Arafat ins Koma gefallen ist." Kabinettsminister Saeb Erekat sagte, er habe mit Arafats Frau Suha gesprochen, die ihm gesagt habe, der Zustand ihres Mannes sei ernst, aber stabil.

Israelische Armee in Alarmbereitschaft

Arafat liegt seit gestern Abend auf der Intensivstation des Militärkrankenhauses bei Paris, wo er seit knapp einer Woche behandelt wird. Israelische Medien berichteten von Organversagen.

Andere palästinensische Gewährsleute bestätigten, dass es Arafat schlechter gehe. Die Ärzte hätten die Ursache für seine Erkrankung noch nicht gefunden. Es solle daher heute neue Untersuchungen geben. Erakat sagte, die meisten der jüngsten Tests seien ermutigend gewesen. Mitarbeiter des Krankenhauses wollten sich zunächst nicht äußern.

Die israelischen Medien beriefen sich in ihren Berichten auf den Geheimdienst. Die Zeitung "Maariv" schrieb, Arafats Zustand sei "sehr kritisch". Nach einem Bericht des israelischen Rundfunks reiste Mahmud Abbas, der Generalsekretär des Exekutivkomitees der PLO, am Morgen nach Paris. Abbas steht seit Jahrzehnten an Arafats Seite. Im vorigen Jahr wurde er zum ersten Ministerpräsidenten der Autonomiebehörde ernannt, legte das Amt aber nach nur vier Monaten nieder, weil Arafat seinen Forderungen nach mehr Befugnissen nicht nachkam.

Berater Arafats beschuldigten Israel, Gerüchte über Arafats Zustand zu streuen. Dies werde die Lage nur komplizieren, auch in der palästinensischen Öffentlichkeit, sagte der frühere palästinensische Sicherheitschef Mohammed Dahlan. Arafats Chefberater Haled Salem sagte, es gebe keinen Rückschlag, es bestehe keine Gefahr.

Zuvor hatte die Gesandte der Autonomiebehörde in Frankreich, Leila Schahid, erklärt, Arafat habe sich kräftig genug gefühlt, um nach dem Ausgang der US-Präsidentenwahl zu fragen. Ein Berater veröffentlichte später eine Erklärung in Arafats Namen, in der dieser George W. Bush zur Wiederwahl gratulierte.

Die Verschlechterung des Zustands von Jassir Arafat beschäftigt auch die israelischen Sicherheitskräfte. Das Thema stand heute im Mittelpunkt einer wöchentlichen Sitzung, an der auch Heereschef Mosche Jaalon teilnahm. Verteidigungsminister Schaul Mofas will im Verlauf des Tages dazukommen. Israel befürchtet Ausschreitungen in den palästinensischen Gebieten. Die Armee wurde in Alarmbereitschaft versetzt. Ministerpräsident Ariel Scharon hat bereits angekündigt, er werde nicht zulassen, dass Arafat in Jerusalem beerdigt werde.

Der israelische Oppositionsführer und Ex-Ministerpräsident Schimon Peres sagte, Arafats Tod hätte große Auswirkungen auf den Nahost-Konflikt. "Es bildet sich (schon) eine neue Führung", sagte Peres, der 1994 zusammen mit Arafat den Friedensnobelpreis erhalten hatte, im israelischen Armeeradio. Diese scheine entschlossener, den Konflikt zu beenden. Er hoffe, dass die neue Führung dem Terror eine Absage erteile.

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