
Proteste in Frankreich: "Aufrecht durch die Nacht"
"Nuit debout"-Proteste in Frankreich Der Zorn wächst
Erst kommen die Flaneure, die Neugierigen, die Zufallsbesucher. Dann, am frühen Abend, sammelt sich das Leben auf der Pariser Place de la République rund um das Denkmal der "Marianne": Mikrofone und Lautsprecher werden installiert, an Wäscheleinen baumeln Transparente, Stände für die Essensausgabe werden aufgestellt.
Während rund um den Platz ein Aufgebot der Bereitschaftspolizei über die Menge wacht, die Nacht für Nacht auf bis zu tausend Menschen anschwillt, erklingt Musik, es riecht nach Fritten und gebratenen Würstchen. Die Menschen singen, tanzen, und irgendwann beginnen die Debatten, politische Wortmeldungen wie poetische Einwürfe: Willkommen bei der Bewegung "Nuit debout" (auf Deutsch etwa: "Aufrecht durch die Nacht").
Die Versammlung unter freiem Himmel an dem Ort, der seit den Pariser Terroranschlägen zum Symbol des Gedenkens geworden ist, steht in Frankreich für eine neue, ungewohnte Form des Bürgerprotests: spontan, ohne Hierarchien, ohne feste Strukturen, ohne Führung. Die Camps werden in den frühen Morgenstunden geräumt, nur um nächsten Abend neu zu erstehen.
Jeder redet einzig und allein für sich
Freiwillige übernehmen die Organisation in täglichem Wechsel, die Themen werden jeden Abend neu bestimmt. "Es geht nicht unbedingt um konkrete Forderungen, sondern um ein grundlegendes Problem, das generelle Schnauze-voll-Gefühl", erklärt eine junge Frau die Motive bei France-TV: "Man erkennt die Kluft zwischen dem Staat, Europa und den Bürgern."
Debattiert werden Arbeitslosigkeit, Armut oder die Misere auf dem Wohnungsmarkt: So politisch die Argumente, so groß das Misstrauen und die Distanz zu den etablierten Parteien. Denn auch die Grünen, Kommunisten oder extremistische Randgruppen gelten als Teil des überholten Systems.

Demonstranten in Paris: Die Gesichter von "Nuit debout"
Chaotisch, pragmatisch, basisdemokratisch und fast immer friedlich: Die Bewegung entstand Ende März nach den Protestkundgebungen gegen die Reform des Arbeitsrechts von Ministerin Myriam El Khomri. Der Dokumentarfilmer François Ruffin und ein paar befreundete Aktivisten lancierten die Idee von offenen Versammlungen, um das Gefühl von Frust und Enttäuschung von unten zu artikulieren, zum Austausch von Ideen und Initiativen. Die sozialen Netzwerke besorgten den Rest.
"Ausdruck von Werten, Visionen und einer Utopie"
Trotz heftiger Ausschreitungen am vergangenen Samstag durch ein paar Dutzend Krawallmacher in Paris hat die Bewegung inzwischen ganz Frankreich erfasst, die nächtlichen Treffen konzentrieren sich nicht mehr nur auf die Großstädte wie Marseille, Nizza, Straßburg oder Toulouse. Längst organisiert sich die Graswurzel-Kampagne in rund 50 Städten, darunter Dijon, Besançon, Angoulème, Lille oder Valence.
Die Zusammenkünfte erinnern an die griechische "Bewegung der Plätze", an die "Empörten", die 2011 Spaniens Stadtzentren besetzten oder an die US-Initiative "Occupy Wall-Street". Die Kundgebungen mit der Feel-good-Atmosphäre eines Musikfestivals vereinen Studenten, Schüler, Angestellte, Arbeitslose, brave Bürger wie smarte Nerds.
"Zunächst sind es Zorn, Empörung, Überdruss", sagt der Politologe Yves Sintomer zu den Auslösern der Bewegung: "Es herrscht der Eindruck, man habe es mit einem blockierten System zu tun, einer sozialen und wirtschaftliche Situation, die sich verschlechtert und Politikern, die nicht zuhören - einer ungerechten Welt." Dem stelle "Nuit debout" "den Ausdruck von Werten, Visionen und einer Utopie" gegenüber, so der Professor gegenüber "Le Monde".
Ausweitung auf die Vorstädte geplant
Die hergebrachten Instanzen der Republik tun sich schwer, auf das Phänomen zu reagieren, ein "Polit-Ufo" (Radio France-Info), das ohne Verantwortliche und ohne präzisen Forderungskatalog daherkommt und dennoch an Zulauf gewinnt. Die Regierung gibt sich verständnisvoll, die oppositionellen konservativen Republikaner hingegen rügen die fortgesetzte Genehmigung der Kundgebungen - angesichts des immer noch geltenden Ausnahmezustands.
Premier Manuel Valls versuchte mit einer Reihe von finanziellen Hilfen für Schüler, Studenten und Auszubildende wenigstens einen Teil der Protestbewegung zu besänftigen. Bislang ohne Erfolg. Am Donnerstag wird nun auch Staatschef Hollande endlich Stellung beziehen: In einer TV-Diskussion mit vier handverlesenen Bürgern will der Präsident versuchen, auf die Frustrationen, Ängste und Ärger seiner Landsleute einzugehen.
Die Mobilisierung wird es nicht beeinflussen, eine Ausweitung auf die Vorstädte von Frankreichs Metropolen ist geplant. Auf Twitter läuft bereits die Kampagne: #Banlieuesdebout.