Paris nach den Anschlägen Stadt in Schockstarre

Blutspuren vor dem Bataclan: Paris trauert
Foto: MIGUEL MEDINA/ AFP"Verrückte sind das, keine Menschen!" Als Evelyn Reynard an diesem Samstagmorgen aus dem gutbürgerlichen Wohnhaus am Boulevard Voltaire tritt, platzt sie förmlich vor Verbitterung und Wut. Madame Reynard wohnt direkt gegenüber des Bataclan. In der Konzerthalle erschossen Terroristen am Freitagabend mindestens 82 der rund 1500 Musikfans, die sich den Auftritt der kalifornischen Band Eagles of Death Metal anhörten. Die 65-Jährige hat die Terrornacht vom Balkon ihrer Wohnung im vierten Stock verfolgt - ein Logenplatz des Grauens.
In einem Amateurvideo, das "Le Monde" am Samstag veröffentlichte, sind grausame Szenen zu sehen: Menschen rennen schreiend aus der Halle, Leichen liegen vor der Tür. Ein Mensch zieht einen leblosen Körper hinter sich her, offenbar um ihn aus der Gefahrenzone zu bringen. Andere sind aus den Fenstern geklettert und klammern sich an die Simse, um nicht von Schüssen getroffen zu werden.
"Zuerst dachte ich an Knallkörper, das gibt's ja immer nach den Auftritten", sagt Evelyn Reynard. "Dann bekam ich eine SMS: 'Attentate in Paris.'" Reynard, Kurzhaarschnitt und modische Brille, ist noch immer in Rage: "Das waren doch überwiegend junge Leute, die ins Konzert wollten, sich amüsieren. Und jetzt sind die Jugendlichen tot oder schwer verletzt, Jugendliche genauso wie ihre Mörder."
"Eine methodische Exekution"
Gegenüber dem Konzertsaal sind am Tag nach dem Grauen die Blaulichter abgeschaltet, die Sirenen verstummt. Doch hinter Sichtschutztüchern gehen Beamte der Spurensicherung und Gerichtsmediziner ihrer Arbeit nach, sammeln Patronenhülsen, Textilfetzen und Hinweise auf die DNA der Opfer: Alle mit geradezu mechanischem Zynismus getötet, die Körper von Schusssalven getroffen. "Eine methodische Exekution", beschreibt eine Augenzeugin das Massaker, das erst endet, als sich die vier Täter selbst in die Luft sprengen.
Hier, wo am Vorabend das Blutbad der Terroristen stattfand, das Frankreichs Präsident François Hollande als "Gemetzel" und "Barbarei" beschreibt, herrscht nun eine Mischung aus hektischer Routine und gedrückter Spannung. Der baumbestandene Boulevard vor dem Bataclan ist gesperrt. TV-Kameras umringen den Tatort, Journalisten machen ihre Aufsager - mit der asiatischen Architektur des renommierten Konzertsaals im Hintergrund. In den Nebenstraßen des Quartiers, wo sonst am Wochenende Geschäftigkeit das Geschehen bestimmt, herrscht Grabesstille.
Video: SPIEGEL-Reporter berichtet vom Tatort
Auch in vielen Boulevards sind die Rollos am Morgen noch unten. Schulen, Universitäten, Museen, Ausstellungshallen und Vergnügungsparks bleiben auf Anordnung der Regierung geschlossen. Metrostationen in der Nähe der blutigen Schauplätze der Terrorserie in Paris sind noch immer gesperrt. Viele Hauptstädter nehmen die Warnungen der Präfektur ernst und bleiben in ihren Wohnungen. Nach den Attentaten gleicht Paris einer Stadt im Belagerungszustand.
Eine Mischung aus Entsetzen und Angst
Im Bistro Chez Gaston, das sich in ein internationales Pressezentrum verwandelt hat, ist die Stimmung angespannt. "Wir haben nach der Attacke sofort dicht gemacht", sagt der Barmann, Nervosität liegt in seiner Stimme. "Was sollen wir machen, das Leben geht weiter - und es wird nicht witzig werden."
Er ist nicht allein mit seiner Meinung. Wie Blei legt sich eine Mischung aus Entsetzen und Angst über die Bürger der Stadt, nicht nur an den Brennpunkten der Anschläge, wo die offenbar arabischen Attentäter zuschlugen. Die glitzernde Metropole, die sich selbst als "Stadt der Lichter" preist, ist in trister Schockstarre gefangen.
Nach den Attentaten auf die Redaktion der Satirezeitung "Charlie Hebdo" hatte die Mobilisierung von zusätzlichen Einsatzkräften beruhigend gewirkt. Jetzt, nach der neuerlichen Eskalation des Terrors, sorgt die massive martialische Präsenz von Polizei, Gendarmerie und Militär eher für Verunsicherung. Der Glaube an den Schutz der Staatsmacht ist nachhaltig erschüttert - trotz der zusätzlichen Entsendung von 1500 Soldaten.
"Nein, ich fühle mich nicht sicher", sagt auch Madame Reynard vor ihrer Haustür. "Die Anschläge im Januar, das war verglichen mit diesen Terrorkommandos gar nichts. Aber trotzdem: Wir dürfen uns nicht unterkriegen lassen. Das ist es doch, was sie wollen, dass wir uns verkriechen, dass wir Angst haben."
Anne Hidalgo, Bürgermeisterin der Hauptstadt, versucht es mit Durchhalteparolen: "Heute ist der Moment des Schmerzes, der Tränen, der Trauer", sagt sie angesichts der vielen gemeuchelten Opfer. Die Sozialistin fordert Solidarität, Geschlossenheit, Hilfsbereitschaft von ihren Mitbürgern. "Ich weiß aber, dass die Pariser sich wieder erheben werden, um zu zeigen, dass die Terroristen die Freiheit und die Lebensfreude unserer Stadt nicht treffen können."
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Video: Szenen von den Anschlagsorten