Umstrittene Justizreform Welche Mittel hat die EU gegen Polen in der Hand?

Jaroslaw Kaczynski, Chef der polnischen Regierungspartei PiS
Foto: Alik Keplicz/ dpaIn Polen will die Regierungspartei PiS mit ihrer Justizreform über die Besetzung von Richterposten mitbestimmen und ihren Einfluss auf die Gerichte ausbauen. Die Gesetze, die den Landesrichterrat, die allgemeinen Gerichte und das Oberste Gericht betreffen, müssen abschließend noch von Staatspräsident Andrzej Duda unterzeichnet werden. Mit der Reform würde de facto die Gewaltenteilung aufgehoben. Die EU sieht das gemeinsame Wertefundament bedroht. Was kann sie dagegen unternehmen?
Grundsätzlich bieten die EU-Verträge zwei Möglichkeiten, einen Verstoß gegen die europäischen Vereinbarungen zu ahnden:
Vertragsverletzungsverfahren
Verstößt ein Mitglied mit bestimmten Gesetzen gegen EU-Recht, kann die Kommission dagegen ein förmliches Vertragsverletzungsverfahren einleiten. Es ist im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union geregelt und läuft in mehreren Schritten ab: Zunächst fordert die Kommission innerhalb von zwei Monaten eine ausführliche Stellungnahme der betroffenen Regierung. Bleibt die Kommission dann bei ihrem Eindruck, dass EU-Recht verletzt wird, fordert sie das Mitgliedsland auf, den Missstand zu beheben und darüber zu informieren. Geschieht auch das nach zwei Monaten nicht, kann die Kommission vor den Europäischen Gerichtshof ziehen. Weigert sich das Land nach einem Urteil des Gerichtshofs weiter, kann dieser nach Vorschlag der Kommission hohe Geldstrafen verhängen .
Vertragsverletzungsverfahren sind in der EU eine übliche Gangart . Auch gegen Deutschland laufen aktuell derartige Verfahren. In den allermeisten Fällen landen sie aber gar nicht erst vor dem Gerichtshof, weil die Forderungen vorher erfüllt werden. Dennoch können sich diese Verfahren auch jahrelang hinziehen.
Verfahren zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit
Der im Falle Polens derzeit am häufigsten erwähnte "Mechanismus" ist das Verfahren zum Schutz der Rechtsstaatlichkeit der EU. Gegen Polen wurde dieser Vorgang bereits im Januar 2016 eingeleitet. Damals ging es unter anderem um die umstrittene Reform des Verfassungsgerichts. Das Verfahren gilt seit 2014 und wurde als eine Art Zwischenstufe eingeschaltet, bevor der betroffene Mitgliedsstaat im Extremfall sein Stimmrecht verlieren kann. Anders als beim Vertragsverletzungsverfahren, das EU-Rechtsverstöße in konkreten Gesetzesakten ahnden soll, befasst sich das Rechtsstaatlichkeitsverfahren allgemein mit einer systematischen Bedrohung der Rechtsstaatlichkeit.
Das Verfahren verläuft in mehreren Stufen und setzt zunächst auf Dialog, in den Kommission und Mitgliedsland, aber auch das EU-Parlament und die anderen EU-Staaten eingebunden sind: Nach einer genauen Analyse, ob es Anzeichen für eine systematische Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit in dem Mitgliedsland gibt, kann die Kommission eine Stellungnahme abgeben, auf die dann das betroffene Land reagieren kann. Wird sie ignoriert, kann die Kommission im nächsten Schritt eine konkrete "Empfehlung zur Rechtsstaatlichkeit" abgeben und eine Frist zur Behebung der Missstände setzen. Im Falle Polens ist das im vergangenen Sommer geschehen, doch die Nachbesserungen genügten der Kommission nicht. Eine weitere Frist von zwei Monaten verstrich im vergangenen Februar.
Als vermeintlich letzter Schritt kann dann der Verlust des Stimmrechts stehen: durch die Aktivierung von Artikel 7 des EU-Vertrags, auch "nukleare Option" genannt, weil sie besser niemals angewendet werden sollte. Der Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans kündigte neben zwei weiteren Vertragsverletzungsverfahren am Mittwoch zunächst eine weitere "Empfehlung" an, brachte die nukleare Option aber bereits ins Spiel: "In Anbetracht der jüngsten Entwicklungen sind wir dem Punkt sehr nahe, an dem wir Artikel 7 auslösen werden."
Artikel 7 als Ultima Ratio
Artikel 7 soll sicherstellen, dass sich alle Mitglieder an den geltenden Grundwertekatalog der EU wie Rechtsstaatlichkeit und Demokratie halten. Hier handelt es sich um einen Vorgang auf höchster EU-Ebene. Auf Vorschlag eines Drittels der Mitglieder, des Europaparlaments oder der Kommission kann der EU-Rat aller Staats- und Regierungschefs zunächst mit Vierfünftelmehrheit feststellen, dass "die eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung" der genannten Werte durch ein Mitglied besteht, und wiederum Empfehlungen abgeben (Satz 1). Stellt der Rat, nachdem er eine Stellungnahme des Mitglieds eingeholt hat, dann einstimmig fest, dass eine "schwerwiegende und anhaltende Verletzung" vorliegt (Satz 2), kann er wiederum mit qualifizierter Mehrheit schwere Sanktionen verhängen bis hin zum Entzug des Stimmrechts (Satz 3).
EU-Gelder als Sanktionsmittel?
Artikel 7 kam noch nie zur Anwendung. Dass er im Falle Polens greifen könnte, gilt derzeit nicht als sehr wahrscheinlich, da damit gerechnet wird, dass Ungarn die Feststellung nach Satz 2 blockiert. Entsprechend wurde zuletzt auch noch eine andere Maßnahme diskutiert: EU-Strukturgelder zu kürzen oder zu streichen, wenn Mitglieder Rechtsstaatlichkeit verletzen. Ein Gedanke, der auch in Kreisen der Bundesregierung diskutiert wird. Dennoch wird auch diese Idee ebenfalls kritisch gesehen. Auch bei den Verhandlungen für die Finanzplanung gilt Einstimmigkeit.