Polens Ministerpräsident Tusk im Interview "Ich bin unfähig, sauer auf Angela Merkel zu sein"

Polen trauert noch immer um die Opfer des Flugzeugabsturzes von Smolensk, doch das Land schaut auch nach vorn, sagt Regierungschef Donald Tusk im Interview. Die Einführung des Euro sei das nächste große Projekt - daran würden auch Finanzkrise und gelegentliche hitzige Diskussionen nichts ändern.
Regierungschef Tusk: "Die EU wurde nicht nur für die guten Zeiten geschaffen"

Regierungschef Tusk: "Die EU wurde nicht nur für die guten Zeiten geschaffen"

Foto: STRINGER/BELGIUM/ REUTERS

SPIEGEL ONLINE kooperiert mit dem britischen "Guardian", "El Pais" aus Spanien, der französischen "Le Monde" und der polnischen "Gazeta Wyborcza" für die "Guardian"-Serie "New Europe". Im Rahmen dieser Zusammenarbeit entstand das folgende Interview.

SPIEGEL ONLINE: Am Sonntag jährt sich zum ersten Mal das Flugzeugunglück von Smolensk. Am 10. April 2010 starben Präsident Lech Kaczynski und 95 weitere Politiker, Geistliche und Militärs. Steht Polen noch immer unter Schock?

Tusk: Wir trauern noch immer, denn wir haben einige Dutzend wichtige Figuren des öffentlichen Lebens verloren. Es ist nicht nur eine Trauer der unmittelbaren Angehörigen, sondern eine authentische nationale und staatliche Trauer.

SPIEGEL ONLINE: Wie haben Sie als Regierungschef die Tragödie bewältigt?

Tusk: Für mich als Ministerpräsident war von Anfang an das Wichtigste, die Kontinuität des Staats zu wahren. Es ging darum, eine Staatskrise zu verhindern: Der Präsident, der Chef der Nationalbank, führende Abgeordnete beider Parlamentskammern und viele andere Funktionsträger waren tot. Das politische System Polens hat sich als sehr widerstandsfähig erwiesen. Es hat seine innere Ordnung und seine außenpolitische Kontinuität behalten.

SPIEGEL ONLINE: Das historisch angespannte Verhältnis zwischen Warschau und Moskau schien sich nach der Tragödie zunächst verbessert zu haben. Später kam es zu schweren Meinungsverschiedenheiten über die Ursachen des Unglücks. Eine russische Untersuchungskommission schob die Schuld einseitig den polnischen Piloten in die Schuhe. Wie steht es um die Beziehungen jetzt?

Tusk: Es ging gleich nach dem Unglück auf russischem Territorium auch darum, die polnisch-russischen Beziehungen vor Zerrüttung zu schützen. Dabei haben nicht alle in Polen und in Russland geholfen. Obwohl die russische Seite nicht immer einen angemessenen Standpunkt bei der Untersuchung der Unglücksursachen eingenommen hat, kann man sagen: Der Prozess der Annäherung, den wir vor vier Jahren begonnen haben, ist trotzdem weitergegangen.

SPIEGEL ONLINE: Die Tragödie wird im politischen Streit längst instrumentalisiert. Der Oppositionsführer Jaroslaw Kaczynski, der Zwillingsbruder des verstorbenen Präsidenten, hält Sie sogar für teilweise mitverantwortlich an dem Unglück. Wird die Tragödie eine entscheidende Rolle im Wahlkampf im Herbst spielen?

Tusk: Die Opposition nutzt die Katastrophe als Werkzeug, die Regierung anzugreifen. Aber ich glaube, das wäre in jedem Land so. Bei uns ist die öffentliche Meinung geteilt in dieser Frage, aber die Proportionen der Teilung zeigen, dass die Polen in der Mehrheit die Ereignisse rational einschätzen.

SPIEGEL ONLINE: Der Euro ist in der Krise. Lohnt es sich für Polen, an Bord dieses sinkenden Schiffes zu gehen?

Tusk: Diese nautische Analogie ist anschaulich, aber der Euro ist kein sinkendes Schiff. Heute war der Regierungschef Maltas bei mir, er ist der Meinung, dass sein Land eine finanzielle Katastrophe getroffen hätte, wäre es nicht in der Euro-Zone gewesen. Die Slowaken und Esten sind ähnlicher Auffassung. Ich bestätige: Polen wird der Euro-Zone beitreten - und nicht nur, weil alle Verträge unterschrieben sind. Ich glaube, es ist in Polens strategischem Interesse und auch im Interesse Europas. Aber nur Idioten können glauben, der Euro sei eine Garantie dafür, dass es nie wieder finanzielle Krisen gibt. Davor schützt keine Währung. In der Euro-Zone gelten strenge Standards für die Finanz- und Haushaltspolitik, die es ermöglichen, die Krise zu bekämpfen. Heute schon erfüllt Polen die meisten Maastricht-Kriterien besser als manch ein Euro-Land.

SPIEGEL ONLINE: Wie steht denn Polens Öffentlichkeit zum Euro? Hat die Krise eher Ängste in der polnischen Bevölkerung geweckt, oder umgekehrt sogar Vertrauen? Schließlich hat die Gemeinschaft die Länder gerettet, die am schwersten getroffen wurden?

Tusk: Weder vor noch nach der Krise gab es bei den Polen eine besondere Euro-Euphorie, die öffentliche Meinung war immer 50 zu 50 geteilt, daran hat sich nicht viel geändert. Es überwiegt eine Art rationale Skepsis: Wir wollen den Euro, aber wir wollen nichts überstürzen. Erst mal sehen, wie die Euro-Zone ihre Probleme bewältigt.

SPIEGEL ONLINE: Wann will Polen denn nun beitreten?

Tusk: Ich habe schon einmal den Fehler gemacht und öffentlich ein Datum genannt, 2012, einen Monat später kollabierte Lehmann-Brothers und es änderten sich alle Bedingungen um Polen herum. Seitdem nenne ich keine Termine. 2015 werden wir alle Kriterien erfüllen, wenn nichts Unvorhergesehenes passiert. Das heißt aber nicht, dass dies auch das Datum unseres Beitritts sein muss.

"Es ist wichtig, dass Europa an den Sinn der Integration glaubt"


SPIEGEL ONLINE: Fürchtet Polen ein Europa der zwei Geschwindigkeiten, in dem die Euro-Zone dem Rest davonprescht? Es hieß, sie hätten sich darüber mit Bundeskanzlerin Angela Merkel schwer gestritten.

Tusk: Ich bin ein eher ruhiger Mensch, ich bin unfähig, sauer auf Angela Merkel zu sein. Jeder Versuch, die Union in unterschiedliche Clubs aufzuteilen, ist falsch. Das meinen fast alle europäischen Führer und haben es immer wieder bestätigt. Für uns, mit unseren historischen Erfahrungen, ist es sehr wichtig, dass Europa an die eigene Kraft, an den Sinn der Integration glaubt. Wenn ich so manchen Ton in der europäischen Debatte höre, habe ich den Eindruck, dass man die Idee der Europäischen Union immer wieder erklären muss. Die Union wurde nicht nur für die guten Zeiten geschaffen. Wir glauben, dass sie gemacht ist, um die schweren Zeiten durchzustehen. Es ist vor allem das Prinzip der Solidarität, was sie so interessant macht. Das wissen besonders die neuen Mitgliedsländer besser als die alten.

SPIEGEL ONLINE: David Cameron hat kürzlich sogar vorgeschlagen, das Budget der Union zusammenzustreichen, um die Finanzkrise zu lindern.

Tusk: Das EU-Budget sollte man in Frieden lassen. Man kann doch nicht im Ernst meinen, dass der Brüsseler Haushalt Auslöser der Finanzkrise war. Wo sitzen denn die negativen Helden der Wirtschaftskrise, die Institutionen, die das zu verantworten haben: In Bukarest, oder Wilnius? Oder vielleicht doch in Washington oder London? Die EU-Mittel sind nicht Auslöser der Krise, sondern für die Länder die beste Medizin dagegen.

SPIEGEL ONLINE: Wegen der Revolution in den arabischen Ländern wird der Blick der EU jetzt stärker in den Mittelmeerraum gehen. Wie will Polen seine Vorstellung von einer nach Osten erweiterten Europäischen Union unter diesen Bedingungen erreichen?

Tusk: Natürlich gibt es keinen Zweifel, dass die Ereignisse im arabischen Raum die größte Herausforderung derzeit sind. Politik ist nicht nur die Planung der Zukunft, sondern vor allem die Herausforderung, klug und schnell darauf zu reagieren, was das Leben so bringt. Politik ist vielmehr die Kunst des sensiblen Reagierens, als Futurologie. Unsere Präsidentschaft wird sich natürlich auch um den Mittelmeerraum kümmern. Malta, Italien und andere EU-Mittelmeerländer haben jetzt schon mit der Einwanderung ein großes Problem. Wir müssen ihnen helfen. Aber: Die Ereignisse in Libyen oder Ägypten dürfen auf keinen Fall die Erweiterung der EU blockieren. Warum sollte Kroatien den Preis für Gaddafis Willkürherrschaft zahlen? Die Entwicklungen im arabischen Raum haben auch gezeigt, dass es heute wichtiger denn je ist, Gespräche mit der Türkei führen.

SPIEGEL ONLINE: Warum hat Polen wie die Deutschen nicht an den Luftangriffen in Libyen teilgenommen?

Tusk: Polen unterstützt den Uno-Beschluss. Es nimmt als Nato- und EU-Mitglied an allen humanitären Hilfsaktionen dort teil. Was das Militärische angeht: Unser Engagement in Afghanistan geht schon an die Grenzen unserer Möglichkeiten. Wir sind mit 3000 Mann dort, das ist eines der größten Kontingente. Ich sage ehrlich: In Polen gibt es keine hundertprozentige Überzeugung, dass solche Militäraktionen gerechtfertigt sind. Im Sudan zum Beispiel oder zuletzt in der Elfenbeinküste sind Dramen in Gange, die dem in Libyen sehr ähneln. Mein Traum wäre, dass die EU immer nach den gleichen Entscheidungsmaßstäben reagiert. In Polen haben die Mächtigen auch auf das Volk geschossen, niemand muss uns da belehren. Ich selbst habe Unterdrückung erfahren. Aber ist Europa bereit, die Demokratie und Menschenrechte wirklich überall dort zu verteidigen, wo sie bedroht sind? Ich habe diese Frage auch in Brüssel gestellt. Wenn man die Waffen hebt im Sinne der Menschenrechte, dann muss jeder sich bewusst sein, dass wir in Zukunft die Pflicht haben, das überall zu tun, wo sie gefährdet sind. Wir müssen um jeden Preis Zweideutigkeiten vermeiden. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass Europa dort reagiert, wo es leicht, angenehm ist, oder wo Öl ist. Wir könnten sonst den Respekt vor uns selbst verlieren.

SPIEGEL ONLINE: Polen will eine wichtigere Rolle in Europa einnehmen. Sehen Sie nicht die Gefahr, dass die Bedeutung Ihres Landes eher geschwunden ist, weil es sich einer solchen Situation gegen Frankreich und Italien stellt?

Tusk: Polen ist heute ein wichtiger Partner in der EU, ob wir Truppen irgendwohin schicken oder nicht. Wenn Polen überzeugt ist, kann man sich auf uns verlassen, das zeigt Afghanistan.

SPIEGEL ONLINE: Frankreich und Deutschland standen in der Libyenfrage gegeneinander, dabei waren diese Länder immer der Motor Europas. Spaltet der Einsatz über der Wüste die EU?

Tusk: Nein, das zeigt nur: Es gibt keine permanenten Allianzen. Die Staaten gruppieren sich zu jeder Sachfrage neu - und das ist richtig so. Die Deutschen zögern aus historischen Gründen, sich irgendwo militärisch zu engagieren, das ist verständlich.

SPIEGEL ONLINE: Polen ist wirtschaftlich erfolgreich und anerkannter und konzilianter Partner in der Welt. Es hat eine stabile Regierung und eine gemäßigte politische Landschaft. Wird Polen nicht allmählich langweilig im positiven Sinne?

Tusk: Ich bevorzuge langweiligen Liberalismus - vor rechtem Totalitarismus oder aufgeregtem Sozialismus. Vielleicht liegt es daran, dass viele mich in der Politik für einen Langweiler halten, ich bin eher für Pragmatismus als die großen visionären Entwürfe. Ich glaube, so denken auch die meisten normalen Leute.

Das Interview führte Jan Puhl
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