Politkowskaja-Mord "Heute wagt niemand, aus Tschetschenien zu berichten"

Am 7. Oktober 2006 wurde die russische Reporterin Anna Politkowskaja erschossen - und Ilja Politkowskij verlor seine Mutter. Im Interview berichtet er, wie er selbst Jagd auf die Mörder machte. Auch fünf Jahre nach der Tat hofft er, dass Killer und Hintermänner eines Tages verurteilt werden.
Anna Politkowskaja: Vor fünf Jahren wurde die Enthüllungsjournalistin ermordet

Anna Politkowskaja: Vor fünf Jahren wurde die Enthüllungsjournalistin ermordet

Foto: Peter Endig/ dpa

SPIEGEL ONLINE: Ihre Mutter, die Enthüllungsjournalistin und Kreml-Kritikerin Anna Politkowskaja, wurde am 7. Oktober 2006 erschossen. Seit fünf Jahren laufen die Ermittlungen, 2009 aber wurden mehrere Angeklagte freigesprochen. Haben Sie noch Hoffnung, dass der Mord jemals aufgeklärt wird?

Politkowskij: Für uns Angehörige ist es wichtig, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Ich bin vorsichtig optimistisch. Ich bin mir sicher, dass die Tat auf der Ebene der unmittelbaren Täter, der Mörder und Organisatoren, aufgeklärt wird.

SPIEGEL ONLINE: Vor wenigen Wochen nahm die Staatsanwaltschaft einen Ex-Polizisten fest. Dmitrij Pawljutschenkow diente als Oberstleutnant einer geheimen Einheit des russischen Innenministeriums. Im ersten Prozess trat er noch als wichtigster Zeuge der Anklage auf. Warum sehen die Ermittler in ihm nun den Drahtzieher der Tat?

Politkowskij: Ich habe den Ermittlern seit Jahren gesagt: Das ist euer Mann, den müsst ihr verhaften. Sie entgegneten mir dann, dass ihnen Beweise fehlten.

SPIEGEL ONLINE: Woher konnten Sie wissen, dass er selbst Mittäter ist?

Politkowskij: Wir haben gespürt, dass er kein gewöhnlicher Zeuge ist, sondern jemand, der gegen ehemalige Komplizen aussagt, um selbst ungeschoren davonzukommen. Er hat viele Dinge aufgedeckt. Aber über seine eigene Rolle hat er stets geschwiegen. Nachdem er ausgesagt hatte, riefen uns die Angeklagten zu: "Schaut euch diesen Mann genauer an!" Das haben wir getan.

SPIEGEL ONLINE: Wen meinen Sie mit "wir"?

Politkowskij: Vor allen Dingen Reporter der "Nowaja Gaseta", der Zeitung, für die meine Mutter schrieb. Gemeinsam haben wir Hinweise zusammengetragen, die dazu beitrugen, dass Pawljutschenkow verhaftet wurde.

SPIEGEL ONLINE: Ist seine Festnahme ein Durchbruch?

Politkowskij: Es ist ein Fortschritt. Die Verhaftung kommt spät, sie wäre früher möglich gewesen. Fünf Jahre sind eine lange Zeit. Zu einem früheren Zeitpunkt wäre es möglich gewesen, mehr Informationen zu bekommen. Die Behörden haben lange für die Verhaftung gebraucht. Ob das Absicht war oder nicht, vermag ich nicht zu sagen. Mit Pawljutschenkow aber haben wir wohl die oberste Ebene der Bande, die meine Mutter ermordet hat. Er ist einer der Organisatoren der Tat, daran zweifle ich nicht. Er könnte den Namen des Auftraggebers kennen.

SPIEGEL ONLINE: Glauben Sie, dass die Hintermänner geschnappt werden?

Politkowskij: Ich hoffe es sehr, sicher aber bin ich nicht. Auf der anderen Seite gibt es schon heute Fakten, die wir kennen, die wir aber noch nicht beweisen können. Ich gehe davon aus, dass wir und die Kollegen von der "Nowaja Gaseta" irgendwann die Wahrheit erfahren werden.

SPIEGEL ONLINE: Welche Versionen halten Sie für wahrscheinlich?

Politkowskij: Ich werde nicht öffentlich über Verdächtigungen sprechen. Alle Versionen, die wir für möglich halten, wurden aber in den vergangenen Jahren in der "Nowaja Gaseta" veröffentlicht.

SPIEGEL ONLINE: Angeblich soll der Kronzeuge Dmitrij Pawljutschenkow angedeutet haben, der Exil-Oligarch Boris Beresowskij könnte hinter der Tat stehen.

Politkowskij: Theoretisch ist auch das denkbar. Aber es gibt nicht einen Beweis für diese Theorie, ja nicht einmal einen begründeten Verdacht. Die Wahrscheinlichkeit, dass es Beresowskij war, ist genauso groß, wie jene, dass der Passant, der eben zufällig an uns vorbei ging, der Mörder meiner Mutter ist. Ausschließen aber kann man das nicht.

SPIEGEL ONLINE: Beresowskij als Auftraggeber käme dem Kreml wohl ganz gelegen. Der Ex-Milliardär ist ein Feind von Wladimir Putin. Besteht die Gefahr, dass Russlands obrigkeitshörige Justiz den Zeugen Pawljutschenkow instrumentalisiert, um den Verdacht auf den Oligarchen zu lenken?

Politkowski: Ja. Pawljutschenkow ist wie ein Tier, das man in die Enge getrieben hat. Es mag sein, dass man ihm vorschlägt: Du hast schon A gesagt. Nun sag auch B. Doch damit kommen sie vor keinem Gericht durch. Wenn wir als Nebenkläger so etwas aufgetischt bekommen, schlagen wir Alarm.

SPIEGEL ONLINE: Wie verbringen Sie den Jahrestag der Tat?

Politkowskij: Im engen Familienkreis fahren wir zum Friedhof. Außerdem schauen wir uns eine geschlossene Vorführung eines Films über Mutter an. Er heißt: „A bitter taste of Freedom“.

SPIEGEL ONLINE: Wenn Ihre Mutter noch leben würde: Worüber würde sie heute schreiben?

Politkowskij: Sie würde noch immer über Tschetschenien schreiben. So wie einst in der Sowjetunion hören wir von dort nur noch gute Nachrichten: Kadyrow (Tschetscheniens Machthaber, Anmerkung d. Redaktion) hat ein neues Stadion gebaut, eine neue Moschee. Dabei wird es immer schlimmer. Seit meine Mutter tot ist, ist Tschetschenien ein weißer Fleck. Niemand wagt mehr, von dort zu berichten.

Das Interview führte Benjamin Bidder in Moskau
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