Präsidentschaftswahlen in Palästina Umm Jusuf stimmt für Gott, ihr Sohn für Abu Masin

In gelöster Stimmung gehen die Palästinenser heute zu den Wahlurnen, um einen Nachfolger für den verstorbenen Präsidenten Jassir Arafat zu bestimmen. Die Wahlbeteiligung verspricht hoch zu werden. Beobachter loben bis auf kleinere Probleme den Verlauf der Abstimmung. Erwartet wird ein Sieg des PLO-Chefs Mahmud Abbas.
Von Yassin Musharbash

Jerusalem/Ramallah - Lächelnd steht die steinalte Bäuerin, die selbst nicht weiß, wann sie geboren wurde, vor dem Wahllokal in dem Dorf Bir Zeit und versucht, mit einem Stofftaschentuch die violette Markierungstinte von ihrem rechten Zeigefinger zu schrubben. Doch das ist nicht so einfach. Kein Wunder, schließlich soll die Spezialtinte mindestens noch 24 Stunden lang anzeigen, wer schon an der Wahl des neuen palästinensischen Präsidenten teilgenommen hat. Obwohl Umm Jusuf weder schreiben noch lesen kann, obwohl sie noch nie in ihrem Leben einen Blick in eine Zeitung geworfen hat, ist sie heute zur Abstimmung über die Nachfolge des im November verstorbenen Jassir Arafat aus dem Dörfchen Khobar angereist. "Heute ist ein besonderer Tag", sagt Umm Jusuf fröhlich.

Für wen sie gerade gestimmt hat, will sie aber nicht verraten. "Ich habe Gottes Segen gewählt", antwortet sie listig und steckt ihre faltigen Hände in die Taschen ihres rot bestickten, langen Kleides, Und was ist das wichtigste Anliegen der Palästinenser in den kommenden Jahren, Umm Jusuf? Ganz klar: "Auch Gottes Segen!" Dann verabschiedet sich Um Jusuf und trollt sich mit ihrem zweitältesten Sohn Ahmad, der einen Schal mit dem Konterfei des PLO-Chefs und Präsidentschaftskandidaten Mahmud Abbas trägt, zu dem Taxi, das sie mit ihrem Dorfgenossen wieder nach Khobar zurückbringen wird.

Gut 150 Jahre liegt es zurück, dass in Khobar etwas von Bedeutung geschah. Damals fand dort eine Schlacht zwischen zwei Stammesgruppen statt. Doch heute bekommen Umm Jusuf und ihr Sohn an jeder Ecke eingebläut, dass sie an einem historischen Ereignis mitwirken: "Deine Stimme zählt!", steht auf riesigen Plakaten in allen Städten und Dörfern der Palästinensischen Gebiete, "Geht wählen!", tönt es aus den Lautsprecherwagen, von denen jede Partei einige durch die Gegend fahren lässt. Knapp 1,8 Millionen Palästinenser sind heute aufgerufen, einen Präsidenten zu wählen. Die Abstimmung dürfte zu einem Zweikampf zwischen Mahmud Abbas und dem unabhängigen Kandidaten Mustafa Barghuti, einem Bürgerrechtler und Arzt werden. Die anderen zur Wahl Stehenden sind bedeutungslos.

Kippen die Dörfer von Dschenin und Nablus um?

Den aktuellsten Umfragen zufolge kann der PLO-Chef Abbas, der hier vor allem unter seinem Kampfnamen Abu Masin bekannt ist, mit rund 70 Prozent rechnen. Barghuti könnte fast den vollständigen Rest erhalten. Doch gestern Abend brachten einige alarmierende Meldungen die Wahlkämpfer der Fatah-Bewegung von Abu Mazen noch einmal zum Schwitzen: Ganze Dörfer in der Gegend von Nablus und Dschenin im Norden der Westbank, hieß es auf einmal, hätten sich für Barghuti entschieden. Dazu zwei große Clans mit 15.000 Mitgliedern. Auch das Gerücht, die militante, radikalislamische Hamas-Bewegung habe sich für den Reformer ausgesprochen, kursiert. Dabei boykottiert die Hamas diese Wahlen sogar; weil sie gegen das israelisch-palästinensische Oslo-Abkommen von 1993 ist, kann sie sich schlecht an einem Urnengang beteiligen, dessen Grundlage diese Vereinbarung ist.

Doch was auch immer an den Gerüchten dran ist: Mit einer Sensation rechnet hier kaum jemand. Mahmud Abbas erscheint den meisten Palästinensern als natürliche Wahl, weil er ein enger Arafat-Vertrauter war. Er ist Urgestein der palästinensischen Politik und gilt als erfahren und schlau, wenn auch nicht als mitreißend. Heute Abend ab 21 Uhr mitteleuropäischer Zeit werden die ersten Ergebnisse eintrudeln. Ein Endergebnis wird für Montag erwartet. Palästinensische Analysten sind übereinstimmend der Meinung, dass es vor allem auf die Höhe von Abbas' Sieg ankommt: Je mehr Stimmen, desto einfacher kann er seine Verhandlungspolitik gegenüber Israel betreiben.

Eine überzeugte Abbas-Anhängerin ist die 38-jährige Fakhira Abu Eid aus dem Ostjerusalemer Stadtteil Biddo. "Nur auf den Spuren Arafats können wir unsere Ziele erreichen", erklärt die verschleierte Frau, die stark geschminkt ist und eine elegante, nachtschwarze Cordhose trägt. Dazu zählt sie die Errichtung eines Staates, das Recht auf Rückkehr der Flüchtlinge, Ostjerusalem als Hauptstadt und die Freilassung aller politischen Gefangenen. Das Wahllokal, in dem sie soeben ihre Stimme abgegeben hat, entspricht bis aufs kleinste Detail den Musterzeichnungen, die die palästinensische Wahlkommission den Wahlhelfern zugestellt hat: In einem Klassenzimmer stehen an einer Wand die Tische, an denen die Wähler registriert und mit Tinte gekennzeichnet werden, an der zweiten Wand die Wahlurne und an der dritten einige Stühle für die zahlreichen internationalen Beobachter, die den Ablauf der Wahl überprüfen.

"Sehr, sehr korrekt"

Armin Laschet, deutsches Mitglied des Europaparlaments, ist einer von ihnen. Seit Öffnung der Wahllokale am Morgen um 7 Uhr ist er unterwegs. "In vielen Wahlstationen haben wir das Bemühen festgestellt, sehr, sehr korrekt zu sein", sagt er. In einem Fall hätten die Wahlhelfer einen Mann sogar gebeten, seinen Abu-Mazen-Anstecker abzunehmen. Viele Leute, so Laschet, hätten ihm gesagt, sie seien Stolz auf diese Wahl. "Es sind die demokratischsten Wahlen im arabischen Nahen Osten, und das trotz der israelischen Besatzung", bekomme er immer wieder zu hören.

Die Besatzung wirft freilich trotzdem einen Schatten auf die Abstimmung. Im von Israel annektierten Teil Jerusalem beispielsweise verhandelten Palästinenser, Israelis und Beobachter bis vorgestern, wie die dort lebenden Palästinenser ihre Stimme abgeben können. Israel besteht darauf, dass deren Stimme per Briefwahl abgegeben wird; die Palästinenser beharren indes auf Gleichbehandlung mit den Palästinenser in der Westbank und im Gaza-Streifen. Salomonische Lösung: Die Schlitze an den dort nun verwendeten Wahlurnen sind seitlich angebracht, um an einen Briefkasten zu erinnern und trotzdem nicht wie einer auszusehen. An einem der fünf Postämter, wo Palästinenser wählen können, versuchten radikale Israelis diese indes davon abzuhalten. Die Polizei verhinderte das aber. Der Postamt-Kompromiss gilt derweil längst nicht für alle in Ostjerusalem lebenden Palästinenser. Weit über 100.000 von ihnen seien dadurch gezwungen, sich durch ein Netz von Militär-Checkpoints in den arabischen Teil der Stadt aufzumachen, kritisieren internationale Beobachter. Im durch die arabischen Stadtteile Ostjerusalems verlaufenden Sperrwall hält die Armee heute vier Durchgänge geöffnet, um den Palästinensern entgegen zu kommen. Auch an den übrigen zwischen den palästinensischen Städten werden die Kontrollen weniger strikt durchgeführt als sonst. Dass die Armee sich indes nicht, wie eigentlich versprochen, für 72 Stunden vollständig zurückzog, kritisieren neben der Palästinensischen Autonomiebehörde und der Wahlkommission auch einige internationale Beobachter.

In Ramallah, der heimlichen Hauptstadt der Palästinenser, verläuft die Abstimmung sehr ruhig. Nach Angaben der Wahlhelfer zeichnet sich eine hohe Wahlbeteiligung ab. In der Hoffnung auf Warteschlangen hat ein Mann einen Süßigkeitenstand errichtet; dazu kommt es aber nicht. Nur die Tee- und Kaffeverkäufer kommen auf ihre Kosten.

"Barghuti versteht unseren Schmerz nicht"

Als 58-jährige Sara Shawabde das Wahllokal erreicht fragt sie, noch draußen, mit durchdringender Stimme: "Ich bin gekommen, um Abu Mazen zu wählen. Wo kann ich das machen?" - "Pscht, Schwester!", antwortet ihr der Wahlhelfer, "das Wahlgeheimnis!". Sara will Abu Mazen wählen, weil er, genau wie sie, ein Flüchtling ist, der seine Heimat 1948 im Laufe des israelisch-arabischen Krieges verlassen musste. "Wer sein Land aufgibt, gibt seine Ehre auf", sagt sie. Abu Mazen traut sie eher als Mustafa Barghuti zu, dieses Ziel nicht aufzugeben. Denn der Arzt stamme ja von hier, aus Ramallah. "Der kann unseren Schmerz nicht verstehen." Zwei Söhne von Sara sitzen derzeit in Israel im Gefängnis. Sie hofft nun, dass Abu Mazen bald möglichst einen Deal mit den Israelis einfädelt, damit ihre Jungen wieder freikommen.

Zu einer kleinen Panne kommt es in Ramallah, als einem Staatsminister der Palästinensischen Autonomiebehörde zumindest vorübergehend die Abstimmung verweigert wird, weil sich sein Name nicht in der Wählerliste findet - obwohl Tatura Faris einen Beleg für seine Registrierung vorzeigen kann. Um gegen ein ähnliches Problem zu protestieren, stürmten fünf Bewaffnete heute nachmittag sogar eines der Wahllokale der Stadt. Nach kurzer Zeit aber konnten sie von einem hochrangigen Politiker zum Abzug bewegt werden. In israelischen Zeitungen wird heute bereits spekuliert, dass solcherlei Ungereimtheiten den Wahlverlierern die Möglichkeit eröffnen könnten, das Ergebnis anzufechten. Doch da es vermutlich sehr eindeutig ausfallen wird, ist die Sorge nicht allzu groß. Versuche, die Wahl zu fälschen, dürften ebenfalls wenig aussichtsreich sein; hunderte Beobachter werden am Abend unangemeldet zu den Auszählungen erscheinen.

Im zweiten Wahllokal von Bir Zeit, etwa 10 Kilometer von Ramallah entfernt, ist die Stimmung locker und gelöst. Sogar für Ironie bleibt Zeit: Ein etwa 20-jähriger Witzbold bedankt sich artig auf Hebräisch für die Tintenmarkierung - er ist solche Methoden nur von Verhaftung durch die israelische Armee gewöhnt. Die Umstehenden lachen, grinsen und fangen nun ihrerseits an, Witze zu reißen. Doch der Wahlhelfer bittet um Ruhe - politische Diskussionen sind in den Wahllokalen verboten. Und das wird hier auch durchgesetzt.

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