Pressefreiheit So funktioniert Israels Zensurmaschine

Israelische Journalistin Anat Kamm im Gericht in Tel Aviv: In den Mühlen der Zensur
Foto: Nir Keidar/ dpaSPIEGEL ONLINE: Israel erhebt den Anspruch, die einzige Demokratie im Nahen Osten zu sein. Es gibt aber Dinge, die im Widerspruch zu demokratischen Werten zu stehen scheinen: die Militärzensur zum Beispiel.
Vaknin-Gil: Das ist ein verbreitetes Missverständnis. Wir sind keine Einheit des Militärs. Wenn sie in unseren Analyseraum gehen, sehen Sie hauptsächlich Zivilisten. Wir gehören nicht der israelischen Armee an. Die Zensur ist aus technischen Gründen in der Armee verankert, aber wir arbeiten unter der Aufsicht des israelischen Staates.
SPIEGEL ONLINE: Sie tragen die Uniform eines Oberst der israelischen Armee, aber der Generalstabschef ist nicht Ihr Befehlshaber?
Vaknin-Gil: Der Generalstabschef ernennt den Zensor nicht, er kann ihn nicht feuern und beeinflusst seine Arbeit nicht. Der Zensor wird vom Verteidigungsminister ernannt, aber von dem Moment, da der Zensor seinen Posten antritt, unterstehen seine Entscheidungen ausschließlich dem Obersten Gerichtshof.
SPIEGEL ONLINE: In Strafverfahren heißt das Prinzip "Im Zweifel für den Angeklagten". Bei Ihnen heißt es "Im Zweifel gegen die Pressefreiheit"?
Vaknin-Gil: Der Oberste Gerichtshof hat uns 1988 einen extrem rigiden Test auferlegt. Um eine Veröffentlichung zu zensieren, muss eine "unmittelbare Wahrscheinlichkeit für eine echte Beschädigung der Sicherheit des Staates" bestehen. Für den Fall, dass ein direkter Konflikt zwischen der Pressefreiheit und der staatlichen Sicherheit existiert, steht laut dem Obersten Gerichtshof die Sicherheit über der Pressefreiheit. Aber wir verfolgen einen sehr liberalen Ansatz. Ich habe in der Vergangenheit im Geheimdienst gearbeitet, und ich würde mir wünschen, unsere Feinde würden Dinge veröffentlichen, wie wir sie freigeben.
SPIEGEL ONLINE: Wie kann ein bestimmte Veröffentlichung die Sicherheit des Staates gefährden?
Vaknin-Gil: Unser Feind ist der Geheimdienstoffizier, der in Damaskus sitzt und die israelischen Medien und das Internet auswertet. Was immer auf meinen Schreibtisch kommt und dem Feind nach meiner Einschätzung wertvolle Informationen liefert, werde ich zensieren. Das kann ein Buchstabe, ein Wort oder ein Satz sein oder manchmal, zu meinem Bedauern, auch mehr. Aber unser Ziel ist es, unsere Interventionen auf ein Minimum zu reduzieren.
SPIEGEL ONLINE: Wie viele Beiträge werden bei Ihnen pro Monat eingereicht, und wie viele davon zensieren Sie?
Vaknin-Gil: Wir erhalten im Monat Tausende von Beiträgen. Das reicht von einer Überschrift in einer Zeitung bis hin zu einem komplexen Buch, dessen Überprüfung mehrere Monate dauern kann. Aus den Tausenden von Eingaben geben wir 80 bis 85 Prozent zurück, ohne sie zu beanstanden. Aus den verbleibenden 15 bis 20 Prozent gehen 10 bis 15 Prozent an die Herausgeber zurück mit "spezifischen Disqualifikationen", wie wir das nennen. Oft ist das nicht mehr als ein Satz. Nur bis zu ein Prozent der eingereichten Beiträge werden komplett verboten.
SPIEGEL ONLINE: Wie kann sich ein Journalist wehren, wenn er meint, die Zensur habe einen Artikel zu Unrecht verboten?
Vaknin-Gil: Laut einer Übereinkunft zwischen dem Verteidigungsminister und dem Ausschuss der israelischen Herausgeber ist der erste Schritt ein Schlichtungskomitee, auch bekannt als "Dreier-Komitee". Den Vorsitz hat ein Repräsentant der Öffentlichkeit, meistens ein Richter. Er wird flankiert von einem Medienvertreter, der immer von einem anderen Medium stammt als demjenigen, das klagt. Wenn eine Zeitung Beschwerde eingereicht hat, kommt der Medienvertreter im Schlichtungskomitee zum Beispiel vom Radio. In den meisten Fällen setzt sich der Medienvertreter für die Pressefreiheit ein. Das dritte Mitglied im Schlichtungskomitee ist ein Vertreter einer der Sicherheitsbehörden. Er muss die Dinge nicht so sehen wie ich, aber natürlich habe ich es mit ihm leichter, weil wir beide eine Uniform tragen.
SPIEGEL ONLINE: Wie oft wird so ein Schlichtungskomitee einberufen?
Vaknin-Gil: Früher passierte das etwa sechs- bis achtmal pro Jahr. Aber in den vergangenen viereinhalb Jahren, seit ich Chefzensorin bin, geschah das im Durchschnitt eineinhalbmal pro Jahr. Auch das zeigt an, wie ausgewogen wir sind. Eine Schlichtung kann aus zwei Gründen einberufen werden. Entweder haben wir eine Veröffentlichung verboten, und das betreffende Medium ist mit der Entscheidung nicht einverstanden. Oder das Medium hat trotz des Veröffentlichungsverbots einen Beitrag gebracht, und wir, die Zensurbehörde, beantragen eine Strafe. Die Strafen sind nicht sehr scharf, es kann eine Abmahnung geben oder eine Strafzahlung. Die beste Abschreckung aber ist immer noch die Tatsache, dass die israelischen Medien das Image fürchten, sie würden die Zensur umgehen.
SPIEGEL ONLINE: Es gibt unter israelischen Journalisten sogar so etwas wie vorauseilenden Gehorsam: Manchmal legen sie bestimmte Informationen der Zensur gar nicht erst vor, weil sie selbst meinen, dass eine Veröffentlichung der staatlichen Sicherheit schadet. Im Fall des in Dubai getöteten Hamas-Waffenhändlers Mahmud al-Mabhuh zum Beispiel wissen israelische Journalisten viel mehr als sie veröffentlicht haben.
Vaknin-Gil: Ohne auf den konkreten Fall einzugehen: Sie beschreiben das, was ich den israelischen Konsens nenne. Ich halte die israelischen Journalisten für sehr verantwortungsvoll. Manche von ihnen achten sogar mehr auf Sicherheitsbelange als wir in der Zensurbehörde.
SPIEGEL ONLINE: Was können die Sicherheitsbehörden tun, um eine bestimmte Veröffentlichung zu verhindern? Ruft Meir Dagan, der Chef des , manchmal bei Ihnen an?
Vaknin-Gil: Wenn der Mossad-Chef meint, dass ich drauf und dran bin, einen schweren Fehler zu begehen und einen Beitrag zur Veröffentlichung freizugeben, kann er seine Vertreter zu mir entsenden oder mit mir direkt sprechen. Das ist in der Vergangenheit passiert. Aber wenn ich ihm sage: "Es tut mir leid, aber ich bin nicht davon überzeugt, dass diese Geschichte die Sicherheit des Staates verletzt", dann hat er keinerlei weitere juristische Möglichkeit, mir seine Bitte aufzuzwingen. Übrigens: Wenn das Schlichtungskomitee meine Position nicht akzeptiert, kann ich nichts weiter dagegen tun. Die Zeitung aber kann, wenn sie mit dem Schlichterspruch nicht einverstanden ist, immer noch vor dem Obersten Gerichtshof klagen. Denjenigen, die die Pressefreiheit repräsentieren, ist also eine zusätzliche juristische Instanz vorbehalten.
SPIEGEL ONLINE: Derzeit beklagen aber viele israelische Journalisten eine Einschränkung der Pressefreiheit. Eine ehemalige Soldatin wurde unter Hausarrest gestellt, weil sie mutmaßlich geheime Armeedokumente gestohlen und an Uri Blau, einen Reporter der Tageszeitung "Haaretz" weitergegeben haben soll. Mehr als vier Monate lang war es den israelischen Medien verboten, über den Fall zu berichten. Ist das ein Vorgehen, dass einer Demokratie angemessen ist?
Vaknin-Gil: Es ist wichtig zu betonen, dass der Maulkorb von einem Richter erlassen wurde und nicht vom Chefzensor. Das ist ein großer Unterschied. Der Chefzensor zieht nur einen möglichen Schaden für die staatliche Sicherheit in Betracht. Bei einem richterlichen Berichtsverbot werden auch andere Aspekte in Betracht gezogen, zum Beispiel die Ermittlungen, die die Behörden geheimhalten wollen, um sie nicht zu gefährden.
SPIEGEL ONLINE: Hätte das Berichtsverbot früher aufgehoben werden sollen?
Vaknin-Gil: Ja, und ich habe diese Meinung intern auch vertreten. Besonders als die ausländische Presse über den Fall und den Maulkorb berichtete, hätte auch Israels internationales Image in Betracht gezogen werden sollen. Die Berichte in der ausländischen Presse haben Israel wie ein Dritte-Welt-Land aussehen lassen.
SPIEGEL ONLINE: "Haaretz"-Reporter Blau hat einige der Dokumente veröffentlicht und behauptet, die Armee hätte - entgegen eines Urteils des Obersten Gerichtshofs - palästinensische Verdächtige getötet statt sie zu verhaften. Hat Blau seinen Artikel der Zensur vorgelegt?
Vaknin-Gil: Uri Blaus Artikel wurde von der Zensur geprüft. Wir haben ihn mit einigen Änderungen freigegeben - übrigens entgegen der Auffassung der Verteidigungsbehörden. Aber nach Meinung der Zensurbehörde hat der veröffentlichte Artikel nicht die Sicherheit des Staates Israel gefährdet.