Proteste in Hongkong "Ich bin bereit, heute Nacht zu sterben"

Protestierende Studenten haben sich in Hongkonger Universitäten verschanzt. Ihre Positionen wollen sie auch mit Waffen gegen die Polizei verteidigen. Ein Bogenschütze erzählt, wie weit er dabei gehen würde.
Charlie in der Polytechnischen Universität in Hongkong

Charlie in der Polytechnischen Universität in Hongkong

Foto: Georg Fahrion/ Der SPIEGEL

Seit am 8. November der Student Alex Chow starb, eskaliert in Hongkong der Konflikt zwischen der Protestbewegung und der Polizei. Spielten gewaltbereite Aktivisten zuvor mit den Beamten Katz und Maus, haben sie seit Beginn dieser Woche erstmals mehrere Universitäten besetzt - und hielten ihre Stellungen teils tagelang gegen anrückende Sicherheitskräfte.

Eine davon ist die Polytechnische Universität mitten im zentralen Stadtteil Kowloon. Hinter Barrikaden aus Tischen, Stühlen, Metallzäunen, Ziegelsteinen und Stacheldraht gleicht sie einer Festung.

Um die "Poly" zu verteidigen, haben sich viele Studierende Waffen gebastelt - von der Steinschleuder bis zum Molotowcocktail. Andere haben Pfeile und Bögen aus den Sportstätten der Universität herangeschafft. Neben einem leeren olympischen Pool, den Schwarzgekleidete zur Übungsbahn für Molotowcocktail-Würfe umgewandelt haben, hat eine Truppe von Bogenschützen ihr Trainingslager aufgebaut. Mit maskierten Gesichtern proben sie hier am späten Donnerstagabend das Schießen.

Schießübungen in der Polytechnischen Universität in Hongkong

Schießübungen in der Polytechnischen Universität in Hongkong

Foto: Georg Fahrion/ Der SPIEGEL

Einer von ihnen erklärt sich zu einem Gespräch bereit, seine Vermummung wird er dabei nicht ablegen. Als seinen Vornamen gibt er Charlie an. Er sei in Hongkong geboren, 22 Jahre alt und Student, wohl an einer anderen Hochschule. Trotzdem würde er, behauptet er, die Polytechnische Universität bis zum Letzten verteidigen.

SPIEGEL: Sind Sie bereit zu sterben?

Charlie: Ja, ich bin bereit, heute Nacht zu sterben. Ich habe einen Abschiedsbrief dabei, er steckt in meinem Portemonnaie.

SPIEGEL: Was steht da drin?

Charlie: Einige Worte an meine Eltern, meine Freunde, an die Menschen, die mir etwas bedeuten. Meine Freundin, sogar meine Ex.

SPIEGEL: Sie üben hier mit Pfeil und Bogen. Wollen Sie diese auch einsetzen?

Charlie: Natürlich! Wenn die Polizei uns attackiert, werden wir alles unternehmen, was nur möglich ist, um sie daran zu hindern, in die Polytechnische Universität einzudringen. Wenn sie es hier hineinschaffen, dann werden sie uns nicht einfach festnehmen. Die bringen uns um. Da sind wir alle einer Meinung. Jeder weiß, dass sich die Polizei inzwischen um Menschenleben nicht mehr schert.

SPIEGEL: Und Sie? Haben Sie kein Problem damit, Pfeil und Bogen zu benutzen?

Charlie: Ja, es ist schon gefährlich. Wenn du zum Beispiel nicht gut zielst und jemanden triffst, der kein Polizist ist... Es gibt schon ein Risiko.

SPIEGEL: Aber einen Polizisten zu treffen, halten Sie für okay?

Charlie: Ja. Zu diesem Zeitpunkt ist das gerechtfertigt. Die Polizei schießt inzwischen ja auch mit scharfer Munition auf uns.

SPIEGEL: Würden Sie es in Kauf nehmen, einen Polizisten zu töten? Denn das ist eine potenziell tödliche Waffe.

Charlie: Nein, ich will denen nur drohen, damit sie sich unseren Barrikaden nicht nähern. Keiner will die umbringen. Wir wollen ihnen nur signalisieren: keinen Schritt weiter.

SPIEGEL: Wer einen Pfeil schießt, kann jemanden töten.

Charlie: Aber die Pfeile sind nicht wirklich spitz. Damit kann man niemanden töten, schauen Sie hier, so spitz ist der gar nicht.

Studierende bereiten sich auf das Eintreffen der Polizei vor

Studierende bereiten sich auf das Eintreffen der Polizei vor

Foto: Georg Fahrion/ Der SPIEGEL

SPIEGEL: Wann haben Sie sich der Protestbewegung angeschlossen?

Charlie: Am 12. Juni. Das war der erste Tag, als die Polizei Tränengas eingesetzt hat. Ganz am Anfang haben wir nur Straßen blockiert, um die Regierung zu zwingen, uns zuzuhören. Inzwischen wenden wir auch Gewalt an. Aber immer mit Bedacht. Wir versuchen nur, uns gegen die Regierung zu wehren, die die Polizei losschickt, um die Hongkonger Bürger zum Schweigen zu bringen.

SPIEGEL: Haben Sie Ziegelsteine geworfen?

Charlie: Auch Molotowcocktails - alles, was Sie sich im Moment in Hongkong vorstellen können. Wir müssen uns neue Fähigkeiten aneignen, weil die Polizeigewalt eskaliert . Seit es im Juni mit Tränengas losging, ist es immer schlimmer geworden.

SPIEGEL: Man könnte es auch andersrum sehen: Wenn Protestierende sich bewaffnen, sind sie mitverantwortlich, wenn die Lage eskaliert.

Charlie: Nein. Die Hongkonger wissen genau, welche Seite angefangen hat. Die Polizei wurde schon gewalttätig, als wir noch friedlich auf die Straße gegangen sind und nichts als unsere Stimme erhoben haben. Das waren Demonstrationen, kein Krawall.

SPIEGEL: Würden Sie von sich selbst sagen, dass Sie sich radikalisiert haben?

Charlie: Das würde ich nicht so sehen. Wir leisten ja nur Widerstand, wir sind die passive Seite.

Demonstranten reichen Steine weiter, um eine Straße nahe der Universität zu blockieren

Demonstranten reichen Steine weiter, um eine Straße nahe der Universität zu blockieren

Foto: Kin Cheung/ DPA

SPIEGEL: Wie wird das alles zu Ende gehen?

Charlie: Wir werden nicht müde werden, die Universität zu beschützen. Ein Ende ist nicht in Sicht, bevor die Regierung nicht auf unsere Forderungen eingeht, die wir seit Juni erheben, darunter eine unabhängige Untersuchung der Polizeigewalt und freie Wahlen.

SPIEGEL: Halten Sie das für realistisch?

Charlie: Wir hoffen es. Aber die Regierung und die Polizei haben uns bisher nichts als enttäuscht.

Später in der Nacht kommt es an der Polytechnischen Universität zu den erwarteten Auseinandersetzungen. Die Polizei feuert Tränengas - und wird mit Pfeilen bedacht, von denen sie sechs als Beweismittel einsammelt. Ob Charlie unter den Schützen war, konnte der SPIEGEL nicht in Erfahrung bringen. Die Universität wird in dieser Nacht nicht gestürmt.

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