Prozess in Turin Mafia-Vorwürfe gegen Berlusconi erregen Italien

Informant Spatuzza: Bericht über ein Bündnis der Mafia mit Berlusconi
Foto: STR/ AFPwar auf der Kabinettssitzung in Rom außer sich: "Schierer Wahnsinn, einfach unglaublich!" Italiens Regierungschef tobte wegen des Verdachts, er sei im Bunde mit der . Der Vorwurf wird geäußert von einem, der sich bei der auskennt: vom inhaftierten Mafioso Gaspare Spatuzza, einem Kronzeugen, der zeitgleich zur Sitzung des Berlusconi-Kabinetts am Freitag in Turin über den Ministerpräsidenten aussagte.
Es war eine Szene, wie sie Italien aus den großen Mafia-Prozessen der achtziger und neunziger Jahre kannte. Der Gerichtssaal war voll mit Journalisten, die auf eine dichte Phalanx kräftiger Polizisten in Zivil blickten. Polizisten, die ihrerseits vor dem weißen Paravent standen, hinter dem das Phantom hockte: der unsichtbare Kronzeuge, der mit kräftigem sizilianischen Akzent Ungeheuerliches mitteilte.
Ungeheuerliches aus einem Stück, in dem Spatuzza selbst, dazu die Mafia-Bosse Giuseppe und Filippo Graviano sowie Berlusconi und dessen enger Vertrauter Marcello Dell'Utri angeblich die Hauptrollen spielen. Der 44-jährige Spatuzza, von Beruf Anstreicher, war bis zu seiner Verhaftung 1997 professioneller Killer des Clans Graviano, ermordete für sie den elfjährigen Sohn eines Mafia-Kronzeugen, erschoss den Anti-Mafia-Priester Pino Puglisi - und war beteiligt an mehreren verheerenden Bombenanschlägen.
Erst ermordeten die Cosa-Nostra-Killer mit zwei Sprengsätzen im Mai und Juli 1992 die beiden Staatsanwälte Giovanni Falcone und Paolo Borsellino. Dann, im Jahr 1993, taten sie einen Schritt, der für die Mafia unerhört war: Sie legten Bomben auf dem "Continente", auf dem Festland fern von Sizilien. Bomben, die nicht spezifischen Gegnern galten, sondern allein dazu dienten, Angst und Schrecken zu verbreiten. Von Mai bis Juli 1993 explodierten in Mailand, Rom und Florenz drei Sprengsätze, die insgesamt zehn Menschenleben forderten. All dies geschah in einer Phase tiefster politischer Verunsicherung: Italien war, seit 1992, durch die Korruptionsermittlungen gegen Christdemokraten und Sozialisten, vorneweg gegen deren Granden Giulio Andreotti und Bettino Craxi, in den Bann geschlagen. Das alte Parteiensystem brach auseinander, neue Spieler drängten auf den Plan.
Und einer von ihnen sollte im März 1994 völlig überraschend die Wahlen gewinnen: der TV-Magnat Silvio Berlusconi. Berlusconi hatte binnen weniger Monate seine neue Partei "Forza Italia" aus dem Boden gestampft. Sein wichtigster Helfer bei diesem Kraftakt war ein alter Freund und Manager aus seinem Konzern: der aus Palermo stammende, heute 68-jährige Marcello Dell'Utri.
Ebenjener Dell'Utri steht jetzt in Palermo vor Gericht als Helfershelfer der Mafia. In erster Instanz wurde er schon zu neun Jahren Haft verurteilt, das Verfahren in zweiter Instanz steht kurz vor dem Abschluss. Nur einen Zeugen wollte die Staatsanwaltschaft noch hören - Gaspare Spatuzza, der im Jahr 2008 sein Schweigen brach und über seine Mafia-Karriere auspackte. Aus Sicherheitsgründen wurde die Anhörung nach Turin verlegt - und Spatuzza erzählte von einem Kaffeehausbesuch in Rom.
Dort will er im Jahr 1994 zusammen mit seinem Boss Giuseppe Graviano in der Bar Doney an der Via Veneto gesessen haben. Bester Laune sei Graviano gewesen: Endlich habe die Mafia "das Land in der Hand", dank jener "ernsthaften Personen, die sich jetzt kümmern". "Der von Canale 5" - so heißt Berlusconis wichtigster TV-Kanal - und "unser Landsmann" (in Anspielung auf Dell'Utris sizilianische Wurzeln) seien ebenjene Gewährsleute der Mafia. Und die Bomben der Cosa Nostra hatten nach dieser Logik Berlusconi den Weg zur Macht bereitet.
Neu sind alle diese Vorwürfe gegen Berlusconi und Dell'Utri nicht. Seit Jahren ist bekannt, dass der damalige Bauunternehmer Berlusconi in der Mitte der siebziger Jahre einen merkwürdigen Angestellten in seiner Villa bei Mailand beschäftigte, den Mafia-Boss Vittorio Mangano. Berlusconi behauptete immer, er habe den Mann auf Anraten Dell'Utris als "Stallknecht" eingestellt - doch jener "Stallknecht" war ein wichtiger Boss, der ein großes Rad im Drogenhandel drehte.
Eine "Atombombe" für Berlusconi
Seit Jahren dagegen ist einigermaßen unbekannt, woher eigentlich die Millionen stammten, mit denen Berlusconi erst seine Aktivitäten als Bauunternehmer anschob und dann sein Medienimperium gründete. Beträge im Wert von etwa 300 Millionen Euro, so wollen Kritiker ausgerechnet haben, habe Berlusconi im Bargeldkoffer auf die Banken getragen. Seit Jahren wiederum ist dagegen bekannt, dass wichtige Mafia-Bosse sich sofort für die Unterstützung der neuen Berlusconi-Partei Forza Italia aussprachen, als die 1994 an den Start ging, und bekannt ist auch, dass Dell'Utri nicht bloß mit Mangano, sondern auch mit diversen anderen Mafiosi Kontakt hatte - "aus Zufall", wie der heute als Mafia-Helfer angeklagte Berlusconi-Intimus treuherzig erklärte.
Seit Jahren aber auch ließen alle diese Vorwürfe die italienische Öffentlichkeit völlig ungerührt. So lief der Prozess gegen Dell'Utri, sowohl in der ersten Instanz als auch bisher in zweiter Instanz, gleichsam unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Selbst die im Dezember 2004 nach siebenjähriger Verhandlung erfolgte erstinstanzliche Verurteilung zu neun Jahren Haft war den Zeitungen nur eine kleine Meldung wert.
Auch die mögliche Verbindung Berlusconis und Dell'Utris zu den Mafia-Bomben 1993 ist eigentlich kein neues Thema. Kronzeugen aus den Reihen der Mafia hatten die Behauptung schon in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre lanciert - ohne weitere Folgen. Die für die Attentate von 1993 zuständige Staatsanwaltschaft Florenz stellte die Ermittlungen 1998 ohne Ergebnis ein. Der Einstellungsbeschluss war allerdings alles andere als ein kompletter Freispruch: "Neutral" sei er, schrieben damals die Staatsanwälte auf. Sie hätten nicht die nötigen Beweise gefunden, ließen sie wissen, andererseits aber seien deshalb die Vorwürfe keineswegs entkräftet. Doch Italiens Öffentlichkeit ging über diese brisanten Fußnoten der Einstellungsverfügung hinweg.
So sind nicht die Mafia-Anschuldigungen selbst das wahre Novum dieser Tage - sondern die Tatsache, dass Italien nach Jahren der Gleichgültigkeit wieder hinschaut. "Eine Atombombe" seien die Äußerungen Spatuzzas, befand schon der Präsident des Abgeordnetenhauses, Gianfranco Fini. Die Anwälte Dell'Utris hielten dagegen, bloß ein "Silvesterknaller" sei da gezündet worden, und Dell'Utri selbst legte nach, überhaupt kenne er weder Spatuzza noch die Brüder Graviano.
Er hat eine ganz andere Erklärung für die üblen Aussagen gegen ihn und seinen Chef Berlusconi: "Keine Regierung vorher" habe so viel gegen die Mafia getan wie die jetzige Regierung. So oder so: Das Thema Mafia und Politik beschäftigt die jahrelang gleichgültige italienische Öffentlichkeit wieder - als Verdacht, Freunde der Mafia regierten in Rom oder als Vermutung, die ehrenwerte Gesellschaft wolle den Mafia-Gegner Berlusconi mit planvoll lancierten Aussagen endgültig um seinen guten Ruf bringen.