Putins Beichtvater "Man darf den Westen nicht blind kopieren"

Putin hat Russland gerettet, Zar Alexander hatte Recht, die wichtigste hygienische Erfindung des Westens waren hohe Absätze - das meint Putins Beichtvater Tichon. Im SPIEGEL-ONLINE-Interview spricht er außerdem über Striptease-Bars und einen möglichen Papstbesuch in Moskau.

SPIEGEL ONLINE: Wie gefällt Ihnen das neue Moskau mit seinen Wolkenkratzern, Kasinos und Striptease-Bars?

Tichon: Manche der Hochhäuser sind sehr schön, solange sie die Stadt nicht verunstalten. Was die anderen Etablissements betrifft, die sie erwähnen, wird eine Zeit kommen, in der es sie in Moskau nicht mehr geben wird.

SPIEGEL ONLINE: Wie wollen Sie das erreichen?

Tichon: Schon jetzt geht ihre Zahl zurück. Viele in Russland haben das nach dem Ende des Kommunismus einfach blind von den westlichen Städten übernommen. Das war eine Phase, die wir wohl durchmachen mussten. Früher oder später wird es den einen zum Hals raushängen, und die anderen werden nüchtern auf die schlimmen Folgen solcher Bars schauen. Dann wird der Staat endlich verstehen, dass diese Art von Geschäft nicht auch noch stimuliert werden soll. Ich sage Ihnen eines im Vertrauen: Ich würde solche Lokalitäten noch heute verbieten. Aber wie ein russisches Sprichwort sagt: Der Stier würde gerne zustoßen, nur hat man ihm die Hörner genommen. Also müssen wir uns damit begnügen, dass diese Etablissements nach und nach unter dem Einfluss des gesunden Menschenverstandes verschwinden.

SPIEGEL ONLINE: Sie sollen der Beichtvater und geistige Mentor von Wladimir Putin sein. Stimmt das?

Tichon: Das möchte ich nicht kommentieren.

SPIEGEL ONLINE: Lässt sich Putin in seinen Entscheidungen von religiösen Werten leiten?

Tichon: Davon bin ich fest überzeugt. Natürlich lässt er sich auch von seinem klaren Verstand leiten, wenn er die Infrastrukturprobleme unseres Landes löst.

SPIEGEL ONLINE: Worin sehen Sie Putins Leistung?

Tichon: Er hat Russland aus einer tödlichen Krise geführt. Sie hätte nicht nur für Russland, sondern auch Europa und die ganze Welt unvorhersehbare Folgen gehabt. Um das zu verstehen, lesen Sie unbedingt das Buch "Was der Welt droht, wenn Russland auseinanderfällt" des russischen Philosophen Iwan Iljin. Er hat das nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben, als vom Zerfall der mächtigen Sowjetunion noch keine Rede sein konnte.

SPIEGEL ONLINE: Was bezwecken Sie mit Ihrem Aufsehen erregenden Film "Der Niedergang des Imperiums", in dem Sie Byzanz mit dem heutigen Russland vergleichen?

Tichon: Russland ist der direkte Erbe der byzantinischen Tradition. Deshalb sind unsere Probleme so ähnlich - so wie meine Krankheiten genetisch mit den Krankheiten meiner Eltern zu tun haben.

SPIEGEL ONLINE: Welche Probleme hat Russland von Ostrom geerbt?

Tichon: Die Korruption ist eine der schwersten Krankheiten. Sie hat zum Ende Ostroms entscheidend beigetragen. Als die westlichen Ritter sich anschickten, Konstantinopel zu erobern, war die Korruption so groß, dass die byzantinische Flotte von ihren Generälen vollkommen gewissenlos verscherbelt wurde. Nur verrottete Taue lagen herum. Eine zweite Parallele sehe ich im falsch verstandenen Nationalismus. Solange alle Bewohner des Byzantinischen Reiches sich als Oströmer empfanden, herrschte Einigkeit, und sie waren stark. Die Spaltung in Nationen führte dann zur Katastrophe, das Reich brach von seinen Rändern auseinander. Das darf Russland nicht passieren.

SPIEGEL ONLINE: Welche Rolle spielt dabei die orthodoxe Kirche?

Tichon: Wir sind nicht so vermessen zu denken, dass wir alle Probleme des multinationalen und multireligiösen Russlands lösen können. Eine wichtige Rolle aber wird die orthodoxe Kirche dabei schon spielen. Wir waren über ein Jahrtausend lang eine staatstragende Kraft. Und diese Funktion hat die Kirche auch heute. Das wird jeder unvoreingenommene Wissenschaftler bestätigen, auch wenn die russische Provinz wahrscheinlich nicht so religiös ist wie Bayern.

SPIEGEL ONLINE: In Ihrem Film malen Sie ein recht schwarzes Bild, demzufolge Byzanz unterging, weil es den Verführungen des verdorbenen und hinterhältigen Westens erlag. War es nicht so, dass Byzanz an der eigenen Schwäche zugrunde ging?

Tichon: Genau das stellt der Film ja fest. Ich zitiere daraus: Es ist unsinnig zu behaupten, dass der Westen am Unglück von Ostrom schuld war. Der Westen hat einfach seine Interessen verfolgt. Das ist normal. Die historischen Niederlagen Ostroms ereigneten sich, als die Byzantiner selbst die Prinzipien verleugneten, auf denen ihr Imperium gründete: festes Vertrauen auf Gott und seine ewigen Gebote, deren Hüter die orthodoxe Kirche ist, sowie das Vertrauen auf die eigene Tradition und Kraft.

SPIEGEL ONLINE: Offenkundig sind das auch Ihre Empfehlungen für das heutige Russland. Mit dem Vertrauen nur auf die eigenen Kräfte aber ist es im Zeitalter der Globalisierung so eine Sache. Russland muss sich vielleicht eher in die Welt integrieren, statt sich zu isolieren, um erfolgreich zu sein.

Tichon: Da haben Sie vollkommen Recht. Ich bin kein Anhänger des früheren nordkoreanischen Herrschers Kim Il-Sung und seiner Idee der vollkommenen Autarkie. Es liegt auf der Hand, dass Selbstisolation zum Verderben führt. Gleichzeitig aber bestätigt die Geschichte das nüchterne Wort unseres Zaren Alexanders des Dritten: Russland hat nur zwei Verbündete, seine Flotte und seine Armee.

SPIEGEL ONLINE: Zurück zum Westen ...

Tichon: ... dort erinnert man sich nicht gerne daran, dass in Westeuropa zur Blütezeit von Byzanz noch die tiefste Barbarei vorherrschte. Man hat dort zwar nicht mehr auf den Bäumen gesessen, aber ein Hinterhof war es schon. Konstantinopel war eine blühende Großstadt mit 500.000 Menschen. Wohingegen Regensburg, damals eine der größten Städte in Westeuropa, vielleicht 20.000 Einwohner hatte. In Konstantinopel gab es breite Straßen, hydraulische Fahrstühle in Häusern mit zehn Stockwerken. Es gab Wasserleitungen und eine Kanalisation. Die wichtigste hygienische Erfindung des Westens waren hohe Absätze, damit man nicht direkt in den Fäkalien herumwatete.

SPIEGEL ONLINE: Das hat sich inzwischen geändert.

Tichon: Richtig, das bestreite ich nicht. Ich spreche in meinem Film ja auch nicht über den heutigen Westen mit seinen Mercedes und Audis. Und auch nicht von Beethoven und Bach, sondern von dem barbarischen Westen am Anfang seiner Kulturgeschichte. Wir hatten kurzzeitig erwogen, in meinem Film eine Episode einer BBC-Dokumentation über die Kreuzfahrer zu übernehmen. Dort erzählt ein britischer Professor, nicht etwa ein russischer Pope, dass die Kreuzfahrer Jugendlichen ihre Weichteile abschnitten, brieten und aßen, als sie Konstantinopel eroberten. Säuglinge haben sie komplett gegrillt. Letztendlich haben wir das natürlich rausgelassen. Die damalige Barbarei des Westens ist bloß ein historischer Fakt, den man nicht ausklammern kann, wenn man über diese Periode in der europäischen Geschichte spricht.

"Wir brauchen in Russland eine Zensur"

SPIEGEL ONLINE: Der Westen kommt in Ihrem Film dennoch nicht gut weg. Umgekehrt ist er für viele Russen Anziehungspunkt und Vorbild.

Tichon: Die Mehrheit der Konservativgesinnten in Russland ist nicht gegen die westliche Erfahrung. Man darf sie aber nicht blind kopieren, sondern muss sie schöpferisch anwenden. Viele fragen sich, warum die russische Gesellschaft westliche Ideen ablehnt. Einfach, weil es den Westen gibt und die Westler in unserem Land. Warum schauen wir voll Misstrauen auf unsere liberalen Reformer aus den neunziger Jahren? Ja, Reformen waren nötig. Ja, man brauchte westliche Erfahrung. Aber unsere Reformer gingen ohne jegliches Talent zu Werke. Wahrscheinlich werden die Menschen ihnen das lange nicht verzeihen.

SPIEGEL ONLINE: Wir haben den Eindruck, dass in Moskau die Restaurants voller sind als die Kirchen.

Tichon: Wer in Restaurants sitzt, sieht Restaurantbesucher. Wer in die Kirche geht, sieht gläubige Menschen.

SPIEGEL ONLINE: Dort sehen wir vor allem alte Babuschkas, Großmütterchen.

Tichon: Nein, nein. Da täuschen Sie sich. Es kommen viele junge Leute. In meiner Gemeinde zum Beispiel sind mehr als die Hälfte der Kirchgänger unter 40.

SPIEGEL ONLINE: Fordern Sie eine Kontrolle der Medien?

Tichon: Ich fordere nichts. Aber ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir in Russland eine Zensur brauchen. Das wird nicht jedem gefallen. Aber mir liegt auch nichts daran, allen zu gefallen. Die Zensur muss keineswegs umfassend sein und soll sich nicht auf Kunst, Politik und freie Meinungsäußerung erstrecken. Pornografie, Pädophilie und anderes zu propagieren aber sollte verboten werden. So wie es in Deutschland verboten ist, für den Faschismus Propaganda zu machen.

SPIEGEL ONLINE: Es heißt, Sie könnten eines Tages dem Patriarchen als Oberhaupt der orthodoxen Kirche nachfolgen.

Tichon: Das ist so wenig wahrscheinlich wie die Annahme, dass Sie Bundeskanzler werden. Ich bin nicht einmal Bischof, und nach den Regeln der orthodoxen Kirche darf nur ein Bischof mit langer Erfahrung zum Patriarchen gewählt werden.

SPIEGEL ONLINE: Ihre Gemeinde ist von Geheimdienstgebäuden umgeben ...

Tichon: ... ich stelle fest, dass unser Kloster fast 600 Jahre eher da war als deren Gebäude.

SPIEGEL ONLINE: Ihre Gemeinde hat einen großen Verlag und gilt als Ideologieschmiede der orthodoxen Kirche.

Tichon: Es ist schmeichelhaft, diese Einschätzung zu hören. Aber das ist Ihre Bewertung. Im Grunde erfüllen wir nur unsere religiöse Pflicht. Wir geben pro Jahr etwa zweihundert Titel heraus, einige mit wenigen tausend Exemplaren, einige in Millionenauflage. Als Ostergeschenk haben wir in diesem Jahr in Moskau zwei Millionen Exemplare des Evangeliums kostenlos verteilt, die im Übrigen in Deutschland gedruckt wurden.

SPIEGEL ONLINE: Woher nehmen Sie das Geld?

Tichon: Einen beträchtlichen Teil erarbeiten wir selbst. Einen Teil spenden Christen, von Großmüttern bis zu wohlhabenden Bürgern.

SPIEGEL ONLINE: Die Herren Abramowitsch und Deripaska vielleicht?

Tichon: Haben Sie im Neuen Testament nicht gelesen, dass gute Taten im Stillen vollbracht werden sollen?

SPIEGEL ONLINE: Ist denn ein Besuch des Papstes in Moskau vorstellbar?

Tichon: Als einfacher Priester, der von außen auf diese Frage schaut, möchte ich feststellen, dass an einem solchen Treffen kein Bedarf besteht. Möge Gott geben, dass wir nicht vor solche Probleme gestellt werden, dass ein Meinungsaustausch zwischen Papst und Patriarch wirklich nötig wird.

SPIEGEL ONLINE: Sie schließen also ein Treffen aus?

Tichon: Das Problem besteht darin, dass Rom uns als Schismatiker betrachtet, als Abtrünnige, die es wieder in den Schoß der einzig wahren Kirche zurückführen will. Das räumen auch meine engen Freunde aus der katholischen Kirche ein. Wie wäre es, wenn ich Sie jetzt zu einem Besuch in meinem Kloster einlade, Sie dann aber zwinge Mönch zu werden, eine Kutte anzuziehen und einen schrecklich altmodischen byzantinischen Namen anzunehmen?

SPIEGEL ONLINE: Verstehen wir Sie richtig, dass Rom für eine Vereinigung der Kirchen das Primat des Papstes aufgeben müsste?

Tichon: Wenn wir in den Dogmen in den Zustand vor 1054 zurückkehren, dem vor der Spaltung der Kirche, und der Papst so wie früher anerkennt, dass er nur ein Bischof unter anderen ist, dann wird es keine Probleme mit einem Treffen mit einem orthodoxen Patriarchen geben. Wenn der Papst sagt, dass er ein Sünder ist wie alle Menschen, dann sagen wir: Ja, das ist unser Glaubensbruder.

Das Interview führten Erich Follath und Matthias Schepp


In Moskau leben mehr Dollarmilliardäre als in New York, die Wolkenkratzer sind höher als in Frankfurt und die Bars hipper als in London. Lesen Sie in der Titelgeschichte des aktuellen SPIEGEL, wer den Preis für den rasanten Fortschritt des "Manhattans an der Moskwa" zahlt.

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