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Recep Tayyip Erdogan: Vom Hoffnungsträger zum Alleinregenten

Foto: © Umit Bektas / Reuters/ REUTERS

Türkischer Präsident Erdogan Der Rächer

Das "Time Magazine" hob ihn einst als Person des Jahres auf den Titel. Recep Tayyip Erdogan war Hoffnungsträger, Häftling, Realo - und führt sich heute auf wie Präsident Allmächtig. Seine Biografie erklärt die Verwandlung.
Zur Person
Foto: Karl-Heinz Kuball

Cigdem Akyol, Jahrgang 1978, hat Osteuropakunde und Völkerrecht an der Universität in Köln studiert. Als Journalistin arbeitete sie unter anderem für die "taz", "NZZ" und "FAZ". 2016 erschien ihre Erdogan-Biografie im Herder-Verlag.

"Mein liebes Volk, gib nicht den heroischen Widerstand auf, den du für dein Land, deine Heimat und deine Fahne gezeigt hast", beginnt die SMS, die das türkische Präsidialamt am Donnerstag an alle Handynutzer des Landes verschickte. Und weiter: "Gegen die Landesverräter und Terroristen der Gülen-Bewegung lade ich euch zum Widerstand ein. Die Besitzer der Plätze sind nicht die Panzer. Die Besitzer sind die Nation."

Immer wieder landen solche Nachrichten auf den Telefonen der Türken, seit am vergangenen Freitag das Militär gegen Präsident Recep Tayyip Erdogan geputscht hatte. Direkt nach den ersten Meldungen über den Aufstand, hatte er die Massen aufgefordert, die Straßen gegen die Armee zu verteidigen. Viele verstanden das als Aufruf zur Gewalt.

Wer wissen will, warum Erdogan jetzt so hart, viele sagen: überzogen, auf den gescheiterten Coup reagiert, muss in seine Biografie schauen. Auch wenn es heute schwer vorstellbar erscheint, doch der türkische Staatspräsident galt einst als Hoffnungsträger: Als Ministerpräsident übernahm er 2003 das Land inmitten der schwersten Wirtschaftskrise seit Gründung der Republik 1923. Unter Erdogan ging es in den nächsten Jahren nur noch bergauf. Die Türkei begann mit EU-Beitrittsverhandlungen, ein Wirtschaftsboom sorgte für wachsenden Wohlstand.

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Folgen des Putsches: Die Türkei im Ausnahmezustand

Foto: BULENT KILIC/ AFP

Erdogan war der erste türkische Regierungschef, der öffentlich den Kurdenkonflikt beim Namen nannte. Und er beschnitt - auch auf Wunsch der Europäischen Union - den politischen Einfluss der mächtigen Streitkräfte. So wurde er 2004 als erster Türke in Berlin als "Europäer des Jahres" geehrt. Nach seiner dritten Wiederwahl 2011 zum Ministerpräsidenten hob ihn das "Time Magazine" als Person des Jahres auf den Titel - obwohl sich Erdogan von Sieg zu Sieg radikaler aufführte.

Die "Koran-Nachtigall"

Eine Antwort auf diese, seine Logik findet sich in Erdogans Vergangenheit. Geboren 1954 in Kasimpasa, dem Istanbuler Arbeiter- und Hafenviertel, muss er als Kind eines armen Seemanns aufgebackene Sesamkringel verkaufen, um sich Schulbücher leisten zu können. Über seine Jugendjahre sagte er einmal: Nur wer wendig war und schneller zuschlug als die anderen, konnte auf dem rauen Pflaster überleben.

Die frommen sunnitischen Eltern schicken ihn auf eine sogenannte Imam-Hatip-Schule, ein religiöses Gymnasium. Dort fällt der junge Mann durch so tiefe Religiosität auf, dass er den Spitznamen "Koran-Nachtigall" bekam.


Video: Erdogan über mögliche Verlängerung des Ausnahmezustands

Als ein erster Ankerpunkt von Erdogans politischer Biografie lässt sich der 17. September 1960 festmachen, als der türkische Ministerpräsident Adnan Menderes nach einem Militärputsch von der Junta erhängt wurde. "Damals habe ich nicht viel verstanden. Aber ich sah, dass mein Vater und meine Mutter sehr bestürzt waren, den Mann auf seinen Tod zugehen zu sehen", erzählt Erdogan später.

Die Angst, selbst Opfer eines gewaltsamen Putschs zu werden, sitzt bei ihm tief - die Erkenntnis, dass Schwäche angreifbar macht, ebenfalls. Diese Angst wird seine weitere politische Karriere entscheidend prägen. Diese biografische Prägung könnte helfen, seine harte Reaktion auf den aktuellen Putschversuch zu erklären.

Der arme Aufsteiger aus dem Volk

Schon in den Siebzigerjahren wird er erstmals im Leben politisch aktiv, schließt sich der islamistischen Nationalen Ordnungspartei an, einer radikalen Vereinigung intellektueller Muslime, in der die Rückkehr zu religiösen Werten gepredigt wird. Für deren Nachfolgepartei kandidiert er 1994 erfolgreich als Bürgermeister von Istanbul.

Im Wahlkampf setzte Erdogan voll auf die Rolle des armen Aufsteigers aus dem Volk. Das alte Establishment - die Kemalisten - setzte sich für diese Mehrheit nicht ein, erst Erdogan gibt diesem Teil des Volkes eine Stimme. Seine Umfragewerte steigen stetig, weil er in der Stadt aufräumt: Die Verwaltung wird effizienter, eine erste Istanbuler Metro wird gebaut. Andere haben aus dieser Zeit in Erinnerung, dass Erdogan ein Alkoholverbot für alle städtischen Lokale durchsetzte - und plante, nach Jungen und Mädchen getrennte Schulbusse einzuführen.

Diese Neuerungen kommen nicht bei allen gut an, im Gegenteil: Die säkularen Kemalisten arbeiten an Erdogans Sturz als Bürgermeister. Nachdem er Verse des bekannten pantürkischen Dichters Ziya Gökalp zitiert (Auszug: "Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette..."), trägt ihm das 1999 eine Haftstrafe wegen Volksverhetzung und ein lebenslanges Politikverbot ein.

Erdogan begreift, dass er mit dem Koran in der Hand nicht gegen die Militärs ankommen kann. Erfolg winkt nur, wenn er realpolitische Fakten schafft. Als vom Fundamentalismus geläuterter Pragmatiker baut er nach seiner Entlassung die Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) auf. Eine vorherige Verfassungsänderung erlaubte ihm, sich doch wieder politisch zu betätigen.

Aufbau eines repressiven Systems

Doch von Wahlsieg zu Wahlsieg erlahmt der pragmatische Reformprozess. Immer mehr steuert Erdogan stattdessen den Aufbau eines repressiven Systems. Er versteht sich als Schöpfer einer neuen politischen und gesellschaftlichen Ordnung - und er will in die Geschichtsbücher. Beseelt von der Sehnsucht nach der einstigen Größe des Osmanischen Reichs, fordert Erdogan gar, an türkischen Schulen wieder Osmanisch zu unterrichten. Vor allem aber treibt ihn der Wunsch, sich für vergangene reale oder auch eingebildete Schmähungen zu rächen.

Erdogan schwebt eine Gehorsamsgesellschaft vor, die fünfmal am Tag betet und ein patriarchalisches Wertesystem lebt. Galt er zu Beginn seiner Amtszeit als westorientiert, stilisiert er sich zunehmend als Heilsbringer aller Muslime weltweit. So wählt Erdogan immer wieder die Istanbuler Eyüp-Sultan-Moschee aus, um zu beten. Dieses symbolträchtige Gotteshaus besuchte einst jeder neue Sultan nach der Thronbesteigung, um sich mit dem Schwert Osmans, des Gründers der osmanischen Dynastie, zu gürten.

Als die Türken 2014 ihren Präsidenten zum ersten Mal direkt wählen, gewinnt Erdogan im ersten Anlauf. Mit wilden Verschwörungstheorien bestärkt der neue Präsident seitdem Feindbilder im Inneren wie im Äußeren. Und er erfindet neue, um Missstände wie etwa die wachsende Korruption zu vertuschen.

Sein erklärtes Ziel ist es, auch noch 2023 Präsident zu sein - dem Jahr, in dem die Türkische Republik ihren 100. Geburtstag feiert. Sollte er dann tatsächlich noch an der Spitze des Staates stehen, könnte Erdogan auch aus dem ewigen Schatten des Republikgründers Mustafa Kemal Atatürk treten. "Wenn ich gehe", sagte Erdogan kürzlich, "dann werden dieses Land, dieser Staat und diese Nation kollabieren."

Man darf getrost davon ausgehen, dass er das ernst gemeint hat.

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