Reaktionen auf AKW-Katastrophe Wie die Welt auf das Atomdesaster reagiert

Anti-Atomprotest in Frankreich: Die Euphorie ist in den meisten Staaten verflogen
Foto: GONZALO FUENTES/ REUTERSBrüssel/Moskau - Die meisten Atomstaaten auf der Welt sind sich in der Bewertung der Katastrophe in Japan einig: Sie wollen ihre Reaktoren umgehend auf die Sicherheit überprüfen - oder legen sogar sämtliche Pläne zum Neubau von Kernkraftwerken auf Eis.
Eine Ausnahme ist Russland. Auch nach den atomaren Störfällen in Japan hält der Kreml am geplanten Bau von mehr als 20 AKW im eigenen Land fest. "Wir werden unsere Pläne nicht ändern, aber natürlich unsere Schlüsse daraus ziehen, was im Moment in Japan passiert", sagte Regierungschef nach Angaben der Agentur Interfax am Montag bei einem Besuch in der Stadt Tomsk. Russische Experten verfolgten die Lage in den japanischen Nuklearreaktoren genau.
Derzeit gebe es keine Bedrohung für den an Japan grenzenden östlichen Teil Russlands. Russische Atomexperten gingen im Moment sogar davon aus, dass es in Japan derzeit keine Gefahr einer Atomexplosion gebe, sagte Putin. Russland strebt nach einer führenden Position auf dem Weltmarkt für Atomenergie und baut unter anderem in Indien, China und im Iran Nuklearreaktoren.
"Zu Öl und Gas gibt es nur eine reale starke Alternative: Das ist die Atomenergie", hatte Putin einmal gesagt. Alles andere seien "Spielereien". Bis zum Jahr 2030 sollen in Russland 26 Atomreaktoren gebaut werden. Der Anteil des Atomstroms soll von derzeit 16 Prozent auf etwa 33 Prozent wachsen. Als nächstes soll im Gebiet Kaliningrad - rund um die frühere Stadt Königsberg - mit Hilfe des deutschen Konzerns Siemens ein Atomkraftwerk gebaut werden. Russland hat wegen der Katastrophe von Tschernobyl in der UdSSR im Jahr 1986 ein besonders zwiespältiges Verhältnis zur Kernkraft.
In anderen Staaten ist die Atomeuphorie längst verflogen. Die Regierung der Schweiz legte sämtliche Pläne zum Neubau von Kernkraftwerken vorerst auf Eis. Doris Leuthard, Ministerin für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation, habe die Atomaufsicht des Landes "beauftragt, die Ursachen des Unfalls in Japan genau zu analysieren" und daraus "neue oder schärfere Sicherheitsstandards abzuleiten", erklärte ihr Ministerium am Montag in einer Mitteilung. "Die Rahmenbewilligungsgesuche für den Ersatz bestehender Kernkraftwerke können nur in Kenntnis dieser Abklärungen umfassend beurteilt werden", hieß es darin weiter. "Oberste Priorität" hätten "die Sicherheit und das Wohlergehen der Bevölkerung".
Umdenken auch in Indien: Ministerpräsident kündigte am Montag eine Überprüfung aller eigenen Reaktoren an. Er habe die Atomenergiebehörden und die staatliche Betreiberfirma angewiesen, die Sicherheitssysteme zu kontrollieren, sagte Singh vor Parlamentariern. Es solle geprüft werden, ob die Reaktoren Ereignissen wie einem Erdbeben oder einem Tsunami standhalten könnten. Indien hat über 20 Atomkraftwerke, die meisten davon stehen entlang der Küste.
Die Regierung von Frankreich hat derzeit keine klare Linie, wie sie auf die Atomkatastrophe in Japan reagieren will. Für Präsident ist der Export französischer Atomtechnologie wichtig. Sicherheitsbedenken wischte er bislang schnell vom Tisch. Industrieminister Eric Besson behauptete noch am Sonntag, so lange es keine Kernschmelze gebe, handle es sich auch nicht um eine Katastrophe. Präsidentenberater Henri Guaino verstieg sich sogar zu der Einschätzung, dass die Ereignisse in Japan der heimischen Atomindustrie letztlich helfen könnten, da die französischen Reaktoren besonders sicher seien. Doch plötzlich wächst der Widerstand gegen Atomkraft: Grüne Politiker fordern eine Debatte und eine Volksabstimmung. Am Sonntagabend demonstrierten etwa 300 Atomkraftgegner gegenüber vom Eiffelturm - möglicherweise der Beginn einer größeren Protestwelle ( mehr zur Atomdiskussion in Frankreich hier).
Auch in Italien gibt sich die Regierung von Ministerpräsident bisher bedeckt. Geplant ist der Bau von 13 Kraftwerken, doch die Standorte sind noch umstritten. Italien gehört innerhalb Europas zu den erdbebengefährdeten Ländern. Berlusconi hatte erst im Juli 2009 im Parlament die gesetzliche Basis für einen Wiedereinstieg gelegt. 2013 sollte mit dem Bau des ersten Europäischen Druckwasserreaktors (EPR) begonnen werden. Am kommenden 12. Juni sind die Italiener erneut dazu aufgerufen, per Referendum über "Ja oder Nein zu Atom" zu entscheiden. Der Ausgang ist dabei völlig ungewiss. Während Umweltorganisationen und Opposition schon heftig forderten, den Wiedereinstieg in die Atomkraft zu überdenken, enthielt sich Rom bisher einer offiziellen Stellungnahme. Man halte nichts von "emotiven Kurzschlusshandlungen", sagte Justizminister Angelino Alfano am Sonntag in einer TV-Talkshow. Mitglieder von Berlusconis Regierungspartei PdL hatten zuvor verlauten lassen, die Position der Regierung zur Atomkraft bleibe unverändert. Man könne schließlich "nicht alles immer wieder ändern".
Als "blanken Zynismus" kritisierte die Naturschutzorganisation WWF diese Haltung. "Angesichts einer Katastrophe in Japan, die alle Vorhersagen zu übersteigen droht, gibt es in Italien noch nicht einmal einen Schimmer des Überdenkens, des Zweifels geschweige denn den Willen, die getroffenen Entscheidungen zu überprüfen", so WWF. Mitglieder der linken Opposition mahnten, es gebe viel ungefährlichere und umweltfreundlichere Energien. Grüne verpönten die Pläne erneut als "völlig unverantwortlich".
Österreichs Umweltminister Nikolaus Berlakovich forderte für die EU umgehende Stresstests für europäische Atomkraftwerke. "Die europäische Bevölkerung ist verunsichert angesichts der Ereignisse in Japan", sagte Berlakovich am Montag am Rande eines Treffens der EU-Umweltminister in Brüssel. "Daher müssen diese Stresstests für Atomkraftwerke rasch erfolgen." Die morgige EU-Dringlichkeitssitzung, bei der neben den Energieministern und Industrievertretern auch die Atomaufsichtsbehörden der Länder anwesend sein werden, sei der "ideale Zeitpunkt, um das Thema voranzutreiben".
In China hat der größte Energieverbraucher der Welt hat ausgerechnet an diesem Montag seine ehrgeizigen Pläne für den Ausbau der Kernenergie bekräftigt. In China sind heute 13 Atomreaktoren mit einer Kapazität von 10,8 Gigawatt im Betrieb. Bis 2020 sollen diese Kapazitäten sogar auf 86 Gigawatt verachtfacht werden. 25 Kernreaktoren sind zur Zeit im Bau, weitere 50 in konkreter Planung. Bis 2015 soll mit dem Bau von 40 Gigawatt an Kapazitäten neu begonnen werden.
In den USA werden Stimmen wieder lauter, die sich gegen Nuklearenergie wenden. Der einflussreiche Senator Joseph Lieberman forderte ein Moratorium für den Bau neuer Atomkraftwerke. 23 AKW in den USA seien nach ähnlichen Plänen gebaut wie in Fukushima. Derzeit liefern die 104 amerikanischen Atomkraftwerke rund ein Fünftel des US-Stroms. Seit mehr als zwei Jahrzehnten ist keine Genehmigung für den Bau eines neuen Meilers mehr erteilt worden. Auslöser für die Abkehr war der Nuklearunfall von Harrisburg vor rund 30 Jahren ( mehr zur Atomdebatte in den USA hier).
Finnland lässt vor dem Hintergrund der Atomunfälle in Japan die Notfallpläne seiner Atomkraftwerke prüfen. In Finnland sind vier Atommeiler in Betrieb, ein fünfter befindet sich im Bau. Erst im vergangenen Jahr hatte das Parlament den Bau von zwei weiteren Atomkraftwerken gebilligt.
In Schweden hält Ministerpräsident Fredrik Reinfeldt an der Entscheidung vom vergangenen Juni fest, wonach es im Falle der Stilllegung von einem der zehn Reaktoren Neubauten geben darf. "Wir müssen feststellen, dass es Sicherheitsrisiken gibt und wir daraus lernen müssen", sagte der Regierungschef am Sonntagabend. 2010 hatte Schweden das Bauverbot für Atomreaktoren aufgehoben und damit den 30 Jahre zuvor beschlossenen Atomausstieg revidiert.
Tschechien sieht nach der Katastrophe in Japan keine Notwendigkeit, die Erdbeben-Sicherheit des umstrittenen Atommeilers Temelin neu zu bewerten. "Das AKW Temelin kann ein Erdbeben in der Größenordnung von 5,5 auf der Richterskala überstehen", erklärte das Amt für Atomsicherheit am Montag.
Polen hält an den Plänen für den Atomeinstieg fest. Der Bau des ersten Atomkraftwerks soll 2016 beginnen. Als möglicher Standort gilt Zarnowiec nordwestlich von Danzig. Der erste Atom-Strom soll 2020 fließen. Regierungschef Donald Tusk sagte am Montag: "Es gibt technische und konstruktionsbedingte Möglichkeiten, um ein Atomkraftwerk sicher zu bauen". "Wir dürfen aber nicht übertreiben. Polen liegt nicht in einer Erdbebenzone", sagte er.
Auch die Türkei hält an ihren Plänen für den Bau von zwei Atomkraftwerken fest. Eine erstes Atomkraftwerk will Ankara am Mittelmeer errichten lassen. Russische Unternehmen sollen in Akkuyu vier Reaktorblöcke mit einer Leistung von 4800 Megawatt bauen.
In der Slowakei sind in Jaslovske Bohunice und Mochovce jeweils zwei Atomreaktoren in Betrieb. Gemeinsam kommen sie auf eine Leistung von insgesamt 1760 Megawatt. Zwei weitere Reaktoren sind in Mochovce in Bau und sollen bis 2012 bzw. 2013 fertiggestellt werden.
Um der EU 2007 beitreten zu können, schaltete Bulgarien im umstrittenen Atomkraftwerk Kosloduj an der Donau vier veraltete Reaktoren ab. Ein zweites Kraftwerk in Belene soll vom russischen Unternehmen Atomstroiexport mit zunächst zwei 1000-Megawatt-Blöcken gebaut werden. Umweltschützer fordern seine Einstellung, da Belene in einem von Erdbeben gefährdeten Gebiet an der Donau liegt.