Reaktionen in USA Normalzustand nach 9/11

Milliarden hat die US-Regierung in die Terrorabwehr investiert. Doch das Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber ruchlosen Attentätern ist geblieben. Für die Menschen in Manhattan ist die Angst zum alltäglichen Begleiter geworden. Auch deshalb reagierten die New Yorker demonstrativ gelassen auf die Terroranschläge von London.

New York - Es war Michael Chertoffs erster Krisenauftritt. Anders als sein Vorgänger Tom Ridge, der Kameras und Terrorwarnungen gleichermaßen liebte, neigt der noch relativ neue US-Heimatschutzminister zum Understatement. Seelenruhig erschien er nach den Londoner Anschlägen in Washington vor der Presse und stellte klar, er werde die Alarmstufe zwar von Gelb auf Orange erhöhen - aber nur im öffentlichen Nahverkehr: "Die Vereinigten Staaten haben keine glaubhaften Informationen, die einen drohenden Anschlag nahe legen." Nach fünf Minuten war er wieder verschwunden: "Ich muss zurück zur Arbeit."

Chertoffs Pragmatismus war eine typische Reaktion hier auf das Blutbad von London, in den Fluren der Macht wie auf der Straße. "Nichts Neues für New Yorker", sagte ein Pendler in Manhattan. Es gab Durchhalte-Appelle, Präsident George W. Bush verlangte zum zigsten Mal, man dürfe sich "diesen Leuten nicht beugen", ABC warf den Horror-Film "Reign of Fire" über die Zerstörung Londons aus dem Programm, und New Yorks Bürgermeister Michael Bloomberg fuhr trotzig mit der Subway ins Rathaus, wie jeden Tag.

Und dann setzte Amerika seinen Alltag fort, scheinbar ungerührt und unbeeindruckt. "Business as usual", sagen sie dazu - eine Redensart, die ausgerechnet die Londoner erfunden haben, während der Nazi-Angriffe.

"Keine Garantien mehr"

Hinter der demonstrativen Gelassenheit aber, hinter all den "Wir gehen munter weiter einkaufen"-Schwüren, steckt beileibe keine Nonchalance. Sondern auch das Trauma einer einst behüteten Nation, die seit fast vier Jahren mit der Angst lebt. Der Terror als Alltag: "Das ist jetzt Teil des Lebens", sagte Bill Bratton, der Polizeichef von Los Angeles, gestern. Oder, so Joe Allbaugh, der Ex-Direktor des Krisenamts FEMA: "Der neue Normalzustand."

Dieser Normalzustand hat sich längst auch als Gefühl von Machtlosigkeit ins Unterbewusstsein vieler Amerikaner eingegraben - und tritt dann als eine Mischung aus Schneid, Schulterzucken und neuerdings auch leiser Resignation zu Tage. Sechsmal schon haben die Menschen hier seit Einführung des Terrorwarnsystems die Erhöhung und Wiederabsenkung von bunten Alarmstufen durchgemacht. Fühlen sie sich sicherer? "Nein", sagt der frühere CIA-Chef John McLaughlin. "Nicht im absoluten Sinne."

New Yorks Polizeichef Ray Kelly räumte dieses Gefühl der Machtlosigkeit gestern ohne Umschweife ein: "In einer Post-9/11-Welt gibt es keine Garantien mehr." Sein Vorgänger Bernard Kerik ergänzte unverblümt: "Es gibt keinen Weg, Terroranschläge zu verhindern."

62 Prozent Pessimisten

Ein Land "voller weicher Terror-Ziele", wie es der ehemalige FBI-Ermittler Bill Daily sagt. Das sind andere Töne als noch vor zwei Jahren, als Bush die Terroristen förmlich herausforderte: "Nur her mit ihnen. Wir haben die erforderlichen Kräfte, mit der Sicherheitslage fertig zu werden." Inzwischen findet auch Bush weitaus sensiblere Worte. Diese neue Einsicht korrespondiert mit Umfragen, wonach eine wachsende Zahl Amerikaner keine Illusionen mehr hat über den Terror - und den Krieg.

So fragte Gallup neulich: "Wer gewinnt Ihrer Meinung nach im Moment den Krieg gegen den Terror?" Nur noch 36 Prozent antworteten "die USA und ihre Alliierten" - fast halb so viele wie während des Afghanistan-Kriegs oder zu Beginn des Irak-Kriegs. 41 Prozent sagten "keine Seite", 20 Prozent "die Terroristen". Jeder Dritte erklärte, er habe "kein" oder "wenig Vertrauen", dass die Regierung neue Attentate verhindern könne - die höchste "Zweiflerquote" seit der Irak-Invasion.

In einer anderen Umfrage des Pew Centers gaben 55 Prozent an, sie hielten weitere Anschläge auf US-Boden innerhalb des nächsten Jahres für "sehr" oder "ziemlich wahrscheinlich". In einer Gallup-Blitzumfrage schoss der Anteil dieser Pessimisten gestern, angesichts der unangenehm vertrauten TV-Bilder, sogar kurzfristig auf 62 Prozent.

Der geheime Krieg gegen den Terror

Immerhin, viel ist geschehen in den letzten Jahren. Über sechs Milliarden Dollar hat die US-Regierung bisher in die Terrorabwehr gesteckt. Geheimdienste wurden reformiert, Gesetze erlassen, Ämter geschaffen. Auch die eiskalte Politisierung des Themas, während des Wahlkampfs in Washington bei beiden Parteien en vogue, hat sich inzwischen weitgehend gelegt und war auch gestern nicht zu spüren.

Und doch sei das lange nicht genug, kritisierten die Ex-Vorsitzenden des 9/11-Ausschusses, Thomas Kean und Lee Hamilton, erst im Juni in einem Essay. So seien unter anderem die Atomkraftwerke weiter ungeschützt, Polizei und Feuerwehr warteten bis heute auf angemessene Notausrüstung, und der Kongress sei immer noch unfähig, seine Aufsichtsfunktion über die Terrorabwehr-Behörden zu erfüllen. "Al-Qaida ist ein geduldiger, anpassungsfähiger und entschiedener Feind", prophezeiten Kean und Hamilton. "In irgendeiner dunklen Ecke der Welt schmieden Terroristen weiter Pläne."

Der wahre, entscheidende Krieg gegen den Terror findet dabei natürlich weit abseits der öffentlichen Wahrnehmung in den USA statt, streng geheim, selten diskutiert und deshalb auch für den Normalbürger kaum einschätzbar. Ein Schlaglicht darauf warf jetzt das Schicksal der in Afghanistan umgekommenen 18 Navy Seals - Mitglieder eines Elitekommandos, über dessen Top-Secret-Einsätze gegen den Terror selbst die Angehörigen oft nichts wissen.

Ostentative U-Bahn-Fahrt

So wirkten auch gestern viele der polizeilichen Aktivitäten hier allenfalls symbolisch - ein mittlerweile alt bekanntes Ritual beruhigender Gesten. In Washingtons U-Bahn postierte sich die Transit Police mit Maschinengewehren und Spürhunden und schloss die öffentlichen Toiletten, Touristen im Kongressgebäude wurden einer "flüchtigen, visuellen Inspektion" unterzogen, und auf dem Dach des Pentagons gingen mal wieder Scharfschützen in Stellung.

Antonio Villaraigose, der Bürgermeister von Los Angeles, folgte dem Beispiel seines Ostküsten-Kollegen Bloomberg und begab sich in die - relativ kleine - U-Bahn seines Stadtmolochs, "um die Leute zu ermuntern, ruhig zu bleiben". Sheriff Lee Baca versicherte den Bürgern derweil: "Die Züge sind sicher. Die Busse sind sicher. Die Routen werden schwer patrouilliert."

Doch die Angst vor dem Terror erzeugt eine allgegenwärtige, diffuse Ohnmacht. Diese offenbart sich auch noch anderswo. Am Tag vor den Londoner Anschlägen enthüllte der Congressional Research Service (CSR) krasse Sicherheitsmängel bei chemischen Anlagen. Demnach gibt es 111 Chemiefabriken in der Nähe von US-Großstädten, für die ein "worst-case scenario" zu befürchten sei - Millionen Tote. "Es existieren Nightclubs in New York", schimpfte der Abgeordnete Ed Markey, "in die ist es schwerer reinzukommen als in unsere Chemieanlagen."

Ein ganz normaler Tag

"Amerika und die Welt sind heute sicherer", sagt Bush oft. Doch das National Counter Terrorism Center (NCTC), eine von Bush selbst erst im August eingeweihte High-Tech-Einrichtung, zählte für 2004 weltweit 651 "signifikante" Terroranschläge - mehr als drei mal so viele wie 2003. Dabei seien 1907 Menschen ums Leben gekommen (im Vorjahr waren es 625). Ein Teil der Bush-Behauptung stimmt freilich: "Eine überwältigende Zahl der Terror-Opfer in 2004 waren keine US-Bürger."

Was tun? Der New Yorker Lokalsender NY1 ging am Abend schon langsam wieder auf andere, kommunale Nachrichten über. Ein 12-jähriges Mädchen stirbt an den Folgen eines Hausbrandes. Ein Autofahrer wird erschossen. Zwei Cops in East Harlem liefern sich ein Feuergefecht mit einem Randalierer. Die Reste eines Wirbelsturms nähern sich Manhattan. Es ist ein ganz normaler Tag in New York City.

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