Jakob Augstein

S.P.O.N. - Im Zweifel links Der schlechte Polenwitz

Erst Ungarn, jetzt Polen. Osteuropa wird Russland immer ähnlicher: autoritär, engstirnig, rassistisch. Hat Europa genug Zeit, auf die Modernisierung der Nachzügler zu warten? Oder brauchen wir eine neue Union - ohne den Osten?
Jaroslaw Kaczynski: Er steuert die Marionettenregierung in Warschau

Jaroslaw Kaczynski: Er steuert die Marionettenregierung in Warschau

Foto: KACPER PEMPEL/ REUTERS

Zwischen den Jahren hat Polen einen großen Schritt gemacht - und zwar nach Osten. Kurz nach Weihnachten trat ein Gesetz in Kraft, das dem Verfassungsgericht die Zähne zieht. Und kurz vor Silvester wurde ein anderes verabschiedet, das dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk seine Unabhängigkeit nimmt. Die Polen mögen die Russen fürchten und hassen - aber eigentlich müssten sie sich mit ihnen gut verstehen. Das Polen der neuen Rechtsregierung ähnelt immer mehr Putins Russland.

Die EU überlegt jetzt, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Kommissar Günther Oettinger hat gesagt, es spräche viel dafür, Warschau unter Aufsicht zu stellen. Es kommt in Polen nicht gut an, wenn ausgerechnet ein Deutscher so spricht. Aber Oettinger hat recht. Denn seit den Parlamentswahlen im Herbst laufen die Uhren in Polen rückwärts. Premierministerin Beata Szydlo ließ vor ihrer ersten Pressekonferenz im neuen Amt alle Europafahnen aus dem Saal entfernen.

Ihr Außenminister trompetete sofort, Polen haben sich gegenüber Deutschland viel zu lange "wie ein Vasall" verhalten. Und im Hintergrund zieht der Nationalkonservative Jaroslaw Kaczynski die Fäden, Chef der Partei "Recht und Gerechtigkeit" und überlebender Zwillingsbruder des früheren polnischen Präsidenten Lech Kaczynski, an den man sich in Europa nur mit einem Gruseln erinnert.

Kulturkampf zwischen Ost und West

Immerhin: Man kann der polnischen Regierung nicht vorwerfen, dass sie die Welt im Unklaren über ihre Absichten lässt - und ihr auch nicht zugute halten, dass sie sich selbst über die Konsequenzen ihrer Handlungen nicht im Klaren ist. Die Polen wissen genau, was sie tun.

Außenminister Witold Waszczykowski hat der "Bild"-Zeitung soeben gesagt, das neue Mediengesetz solle den Staat "von einigen Krankheiten heilen". Es gelte, Fehler der Vorgängerregierungen zu korrigieren: "Als müsse sich die Welt nach marxistischem Vorbild automatisch in nur eine Richtung bewegen - zu einem neuen Mix von Kulturen und Rassen, eine Welt aus Radfahrern und Vegetariern, die nur noch auf erneuerbare Energien setzen und gegen jede Form der Religion kämpfen. Das hat mit traditionellen polnischen Werten nichts mehr zu tun."

Inzwischen fragt sich Europa, ob diese "polnischen Werte" mit den europäischen eigentlich kompatibel sind. Als die Griechen dem Euro beitraten, haben sie mit den Zahlen geschummelt. Bei den Polen und Ungarn war es schlimmer: als sie 2004 Mitglied der EU wurden, taten sie wie gute Europäer. Das sind sie derzeit nicht.

In Wahrheit ist zwischen Ost und West ein Kulturkampf im Gange. Und es ist Zeit für eine bittere Erkenntnis: den westlichen Werten Liberalismus, Toleranz, Gleichberechtigung stehen östliche Unwerte gegenüber - Rassismus, Ignoranz, Engstirnigkeit.

Vor bald zwölf Jahren, am 1. Mai 2004, wurde die Europäische Union um zehn neue Länder erweitert, die meisten kamen aus dem Osten. Schon damals hielt Jacques Delors, der frühere EU-Kommissionspräsident und fraglos der bedeutenste Europapolitiker der vergangenen Jahrzehnte, diesen Schritt für einen Fehler. Es sei dafür schlicht zu früh, sagte er: "Kein einziger Kandidat ist bereit, beizutreten." Heute wissen wir: was die wichtigsten der neuen Mitglieder anging, hatte Delors Recht - nämlich bei Polen und Ungarn.

Westliches Geld ohne westliche Werte

Zwölf Jahre nach ihrem Beitritt sind beide Staaten auf dem Weg vom Normenstaat zum Maßnahmenstaat. Diese Unterscheidung hat der Politikwissenschaftler Ernst Fraenkel einst mit Blick auf Nazi-Deutschland getroffen. Im Normenstaat gilt das Gesetz, im Maßnahmenstaat gilt jeweils das, was "nach Lage der Sache" opportun ist.

Es fehlen die Normen, und es herrschen die Maßnahmen. So macht seit einigen Jahren Viktor Orbán in Ungarn Politik, so macht es nun die von Kaczynski gesteuerte Marionettenregierung in Polen.

Aber wer sich in Europa nicht den westlichen Liberalismus zum Vorbild nimmt, sondern Putins Autoritarismus, darf keinen Platz in der Europäischen Union haben.

Die Polen halten es da jedoch wie mancher gelernte DDR-Bürger: Sie nehmen zwar gerne westliches Geld, wollen aber bitte von den westlichen Werten verschont bleiben.

Der Osten ist ein Problem. Die Deutschen kennen das von daheim: Seit der Flüchtlingskrise kann es am gesellschaftlichen Modernisierungsrückstand weiter Teile der östlichen Landeshälfte keinen Zweifel mehr geben. Aber Deutschland kann die Rassisten in Sachsen und Brandenburg gerade noch aushalten. Kann Europa die Ausländerfeinde in Polen, Ungarn und der Slowakei aushalten?

Polit-Theoretiker haben immer mal wieder über ein Europa nachgedacht, in dem mehrere Gruppen von Staaten nebeneinander bestehen und ineinander verwoben sind, je nachdem wie viel Bereitschaft und Fähigkeit zur Kooperation ihre Mitglieder aufbringen. Wir sollten ein solches System der "variablen Geometrie" aufs Neue prüfen und überlegen, mit welchem unserer Nachbarn wir ein einiges Europa bauen wollen.

Die Polen gehören eher nicht dazu.

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