Ungarn in der Krise Orbáns desolate Halbzeitbilanz

Politiker Orbán: Ungarns Lage ist desolat - nach nur zwei Jahren Fidesz-Regierung
Foto: Zsolt Czegledi/ APSeine Halbzeitbilanz hätte sich der ungarische Regierungschef Viktor Orbán wohl anders vorgestellt. Vor zwei Jahren, nach dem triumphalen Wahlsieg seiner Partei "Bund Junger Demokraten" (Fidesz), verkündete ein strahlender Sieger Orbán den "Sturz der alten und den Aufbau einer neuen nationalen Ordnung". Inzwischen könnte die Lage in Ungarn desolater kaum sein: Finanziell steht das Land vor dem Ruin, wirtschaftlich geht es bergab, sozial durch die Verarmung breiter Schichten sowieso. Innenpolitisch ist Ungarn extrem polarisiert, außenpolitisch so isoliert wie kein anderes EU-Land je zuvor.
Als wäre das alles nicht genug, muss sich Orbán auch noch mit unangenehmen Personalien herumschlagen. Am Mittwoch Vormittag musste das Parlament einen neuen Staatspräsidenten wählen, nachdem der bisherige Amtsinhaber Pál Schmitt nach nur 20 Monaten Anfang April zurückgetreten war. Der einstige Olympiasieger im Fechten, von Orbán im Sommer 2010 persönlich für die Rolle des treuen Gesetzesabnickers ausgesucht, war über einen Plagiatsskandal gestolpert - seine Doktorarbeit von 1992 besteht fast vollständig aus einer ungarischen Übersetzung anderer Werke.
Als Nachfolger hat das Parlament nun János Áder bestimmt. 262 Abgeordnete votierten für den 52-jährigen Juristen, 40 gegen ihn. Áder ist damit der erste postkommunistische Staatspräsident Ungarns, der keine überparteiliche Persönlichkeit, sondern ein gestandener Politprofi ist: Früher rechte Hand Orbáns, organisierte Áder Fidesz-Wahlkämpfe, brachte die Parteibasis auf Linie und disziplinierte die Fraktion. Doch dann vermasselte Orbáns "Vorarbeiter" (so die Zeitung "Népszabadság") als Wahlkampfstratege zwei Parlamentswahlen, darunter den sicher geglaubten Sieg bei den Wahlen 2006, und fiel in Ungnade.
Fernab der Machtzentrale verbrachte Áder die letzten drei Jahre als einfacher Abgeordneter des Europaparlamentes in Brüssel und Straßburg. Die Verbannung ertrug er ohne die geringste Klage. Mehr noch: Er machte sich als Autor von Gesetzen nützlich, mit denen die Macht von Orbán und seiner Partei langfristig zementiert werden soll: Áder schrieb das neue ungarische Wahlgesetz, das große Parteien wie Orbáns Fidesz begünstigt, und plante die Justizreform mit, gegen welche die Europäische Kommission Klage einreichen will, weil die Exekutive mit ihr in die Arbeit von Richtern und Gerichten eingreifen kann.
Es ist wohl seine unbedingte Loyalität, die Áder den Weg "aus der Verbannung zurück an die Spitze" ebnete, wie das ungarische Nachrichtenportal index.hu den plötzlichen Karrieresprung zusammenfasste. Zwar hat der Staatschef überwiegend repräsentative Aufgaben, doch er kann auch direkten politischen Einfluss nehmen, indem er Gesetze nicht unterschreibt, sondern sie ans Parlament zurückschickt.
In der Bevölkerung schwindet der Rückhalt für den Regierungschef
Eine solche Blockade will Orbán auf keinen Fall riskieren. Schon Áders Vorgänger Schmitt hat in 20 Monaten Amtszeit mehr als 300 Gesetze und eine neue Verfassung brav durchgewinkt. Das Machtsystem Orbáns und seiner Partei ist seither zum großen Teil fertig konstruiert. Doch in Kürze soll ein wichtiges Reformpaket zur Sanierung der Staatsfinanzen und zur Wirtschaftsförderung verabschiedet werden, außerdem steht die Einführung neuer Sondersteuern bevor, etwa eine Steuer auf sämtliche Finanztransaktionen bei Banken sowie auf Handy-Telefonate.
Angesichts solcher Vorhaben ist für Orbán Geschlossenheit in den eigenen Reihen besonders wichtig. Denn in der Bevölkerung schwindet der Rückhalt für den Regierungschef und seine Partei. "Orbán und seine Partei haben das Konzept des starken Regierens eingeführt", sagt der Politologe József Jeskó vom Budapester Méltanyosság-Institut. "Sie haben in den letzten zwei Jahren praktisch jeden Bereich grundlegend verändert, immer begleitet von riesigen Konflikten und gegen den Willen aller anderen gesellschaftlichen Akteure."
Beispiel Sozialpolitik: In seiner Rhetorik bemüht Orbán oft antikapitalistische Ressentiments, beschwört die nationale Gemeinschaft aller Ungarn. Doch in Wirklichkeit agiert seine Regierung ausgesprochen antisozial. Unter dem Slogan einer von Orbán propagierten "Arbeitsgesellschaft" wurden Sozialleistungen für Arbeitslose radikal eingedampft, eine Arbeitspflicht für Sozialhilfeempfänger eingeführt, Renten gekürzt und Arbeitnehmerrechte stark beschnitten.
Maßnahmen, die vielen Ungarn so drastisch erscheinen, dass inzwischen Teile der seit zwei Jahrzehnten klinisch toten Gewerkschaftsbewegung wieder auferstanden sind. Doch auch unter der ureigenen Fidesz-Klientel, den mittelständischen ungarischen Unternehmern, macht sich Unmut breit. Der Rauswurf des IWF aus Ungarn im Sommer 2010, "unorthodoxe Maßnahmen" wie die Verstaatlichung privater Rentenkassen oder Sondersteuern für ausländische Großunternehmen haben das Vertrauen von Investoren erschüttert. Ungarn muss Rekordzinsen für Anleihen bezahlen, der Wechselkurs des Forint verfiel zeitweise dramatisch. "Wir wünschen uns weniger Auf und Ab und mehr Berechenbarkeit", sagt Ákos Niklai, der stellvertretende Chef des Verbandes der Arbeitgeber und Fabrikanten MGYOSZ.
Orbán hat Ungarn in der EU isoliert und sich selbst ins Abseits manövriert
Ebenso wenig ist ein Ende des Konfliktes mit der Europäischen Union absehbar. Seit der Verabschiedung des umstrittenen Mediengesetzes im Dezember 2010, mit dem Journalisten öffentlich-rechtlicher Medien gegängelt werden, verspricht Viktor Orbán in Brüssel immer wieder, dass seine Regierung EU-Standards einhalten werde. In der Heimat schlägt er andere Töne an. Mal wirft er der EU-Kommission vor, sie benehme sich gegenüber Ungarn wie einst die sowjetische Führung, dann verkündet er, Ungarn werde keine Kolonie sein, sondern für seine Freiheit kämpfen.
So auch wieder vergangene Woche. Bei einem Treffen mit dem EU-Kommissionspräsidenten José Manuel Barroso sicherte Orbán zu, die von der EU beanstandeten Gesetze nachzubessern, unter anderem ging es um die Unabhängigkeit der Nationalbank und der Justiz. Zwar wird die EU-Kommission Ungarn deswegen verklagen, doch Barroso versprach, dass Brüssel die von Ungarn seit fünf Monaten angestrebten Verhandlungen mit dem IWF über einen 20-Milliarden-Notkredit nicht mehr blockieren werde. Kaum zuhause, bilanzierte Orbán das Ergebnis des Treffens so: "Wir nehmen nichts zurück, heben nichts auf und ändern nichts."
Mit seiner Kampfrhetorik hat Orbán Ungarn in der EU isoliert und sich selbst ins Abseits manövriert, kaum ein Amtskollege will ihn derzeit treffen. Aber nicht nur das. In Ungarn sind Politik und Öffentlichkeit zutiefst gespalten, zwischen der Regierungsmehrheit und der Opposition herrscht tiefe Feindschaft. Das zeigt sich auch wieder bei der Wahl des neuen Staatspräsidenten. Nach dem Rücktritt von Pál Schmitt waren die Konsultationen der Parlamentsfraktionen über seinen Nachfolger eine reine Alibiveranstaltung der Regierung.
Selbst profunde Kenner der Geschichte der ungarischen politischen Kultur sind entsetzt über die magyarischen Zustände. "Im k.u.k.-Parlament vor dem Ersten Weltkrieg gab es unglaubliche Debatten", sagt der Schriftsteller György Dalos, "mit Ehrenbeleidigungen, mit allen möglichen Flüchen, und am Abend spielten die Herrschaften im Casino zusammen Karten. Jetzt machen sie das nicht mehr. Die Herrschaften haben nicht einmal mehr ein gemeinsames Casino. Dieser Hass ist krankhaft, und daran kann das Land kaputtgehen."